Anfang Mai 1945 kursierten in Graz Flugblätter, auf denen stand, dass die Rote Armee bereits in Wien sei und es nun an den Grazerinnen und Grazern liege, den „Befreiungskampf mit allen Mitteln und mit allen Kräften zu unterstützen und zu fördern, wo immer es nur geht. Wir dürfen nicht in feiger Untätigkeit zuwarten, bis die siegreiche Rote Armee das Nazi-Joch von unserem, so grausam wundgescheuerten Nacken nimmt. Unsere Pflicht ist es, selbst das Unsere beizutragen, das Joch von unserem schwer blutenden Nacken zu schütteln. … Soldaten! Desertiert in Massen mit euren Waffen und sammelt euch um eure selbstgewählten Führer zum Kampf für ein freies Österreich. Arbeiter und Arbeiterinnen! Sabotiert alle Anordnungen der Partei, dann handelt ihr als aufrechte Österreicher und gute Steirer. Der Endkampf gegen die blutige Nazityrannei hat begonnen und wir wollen unseren Brüdern in Wien und Niederösterreich durch Taten zeigen und beweisen, dass wir in diesem heiligen Freiheitskampf für unser Land und unser Volk hinter ihnen nicht zurückstehen.“
Zu finden ist dieses Flugblatt der in Graz aktiven Steirischen Kampfgemeinschaft in dem 1947 verfassten aber erst jetzt erschienenen Buch Im Schatten des Hochschwab. Skizzen aus dem steirischen Widerstand von Josef Martin Presterl, dem ehemaligen Spanienkämpfer, Journalisten und Schriftsteller aus Graz.
Dass das Buch erst jetzt veröffentlicht wurde, hängt damit zusammen, dass Presterl im Oktober 1947 in Jugoslawien wegen angeblicher Gestapo-Agententätigkeit und Sabotage des jugoslawischen Aufbaus festgenommen wurde. Gemeinsam mit ihm wurden führende jugoslawische Funktionäre und Direktoren – allesamt ehemalige Spanienkämpfer und Häftlinge des KZ Dachaus – im so genannten „Dachauer-Prozess“, einem titoistischen Schauprozesses, im April 1948 zum Tode verurteilt und hingerichtet. Mittlerweile wurden die damals zum Tode Verurteilten längst rehabilitiert und in Ljubljana wurde ein Denkmal für sie errichtet.
Die nun mit über 60 Jahren Verspätung erschienene Abhandlung über den steirischen Widerstand gibt einen Überblick über bekannte und weniger bekannte Widerstandsgruppen in der Steiermark, wie die in und um Leoben tätige Partisanengruppe der Österreichischen Freiheitsfront, die Koralmpartisanen und die Steirische Kampfgemeinschaft in Graz.
Diese Kampfgemeinschaft wurde im Spätherbst 1944 von Ferdinand Kosmus, Adelheid Kovaci, Josef Mayer und Hans Müller, dem Sohn des Besitzers des Kaufhauses „Moden Müller“, und anderen gegründet. Ihr gelang es bis ins Frühjahr 1945 einerseits eine Reihe von Verbindungen in die großen Grazer Betriebe (Puchwerke, Waggonfabrik, Andritzer Maschinenfabrik, Gas- und E-Werk, Post, Straßenbahnen) herzustellen und andererseits wichtige Verbindungen ins Polizeirevier und zum Wehrbezirkskommando aufzubauen, von wo auch Ausweispapiere organisiert wurden, mit denen Fahnenflüchtige versorgt wurden. Diese Gruppe produzierte im April und Mai 1945 mehrere Flugblätter, die sich an die Zivilbevölkerung, aber auch an die Soldaten und Volkssturmmänner richteten und diese aufforderten, nicht mehr an die Front zu gehen und sich statt dessen der Kampfgemeinschaft anzuschließen. Im Mai 1945 war sie auch dafür verantwortlich, dass die Brücken über die Mur nicht wie vorgesehen vor der näher rückenden Roten Armee gesprengt wurden. Auch übernahmen sie in verschiedenen Grazer Betrieben kurz vor Kriegsende die Macht und sicherten sie vor Zerstörungen. Bedeutung kam der Kampfgemeinschaft zudem in den ersten Stunden der neuen Freiheit zu, als sie sich in den Dienst einer ersten Polizei stellte.
Presterl, Josef Martin: Im Schatten des Hochschwab. Skizzen aus dem steirischen Widerstand. Hrsg. und eingeleitet von Heimo Halbrainer und Karl Wimmler. Graz: CLIO 2010, 376 S.