Unter Linken bekommt die Frage nach den theoretischen Grundlagen ihres Selbstverständnisses aktuell eine wachsende Bedeutung. Davon zeugen in der Bundesrepublik die programmatischen Debatten in den beiden größten linken Organisationen, der Partei Die Linke und der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP). Aber auch international (vergl. die programmatischen Aussagen des Generalsekretärs der KP der USA, Sam Webb, in denen er sich für einen Verzicht auf den Leninismus ausspricht) spielt diese Frage aktuell eine Rolle. Dabei geraten zwei marxistische Persönlichkeiten zunehmend in den Fokus: die deutsche Kommunistin Rosa Luxemburg und der italienische Kommunist Antonio Gramsci.
(siehe auch Teil II: Der Gramsci-Mythos)
In ihrem neuen Programmentwurf rückt die Partei Die Linke besonders Rosa Luxemburg in ein helles Licht. Sie wird faktisch auf eine Stufe mit den Begründern des wissenschaftlichen Sozialismus, Karl Marx und Friedrich Engels, gestellt. Es heißt im Zusammenhang mit den linksdemokratischen, sozialistischen, sozialdemokratischen und kommunistischen Traditionen, auf die sich die Linkspartei beruft: Erst »die Befreiung aus der Herrschaft des Kapitals und aus patriarchalischen Verhältnissen verwirklicht die sozialistische Perspektive der Freiheit und Gleichheit für alle Menschen. Dies haben Marx, Engels und Luxemburg gezeigt.« (Programmentwurf, Zeile 184–187)
Und im Abschnitt III (»Demokratischer Sozialismus im 21. Jahrhundert«) wird Rosa Luxemburg als einzig namentlich genannte Leitfigur eines »freiheitlichen Sozialismus« hervorgehoben.
Fünf »Klassiker«
Die Mitglieder der DKP müssen sich als Ganzes von dieser besonderen Würdigung der Mitbegründerin der KPD angesprochen fühlen. Besonders aber vielleicht diejenigen, die in den laufenden Diskussionen mit den im Januar 2010 vorgelegten »Thesen des Sekretariats« sympathisieren, auch wenn diese vom letzten Parteitag als programmatisches Dokument zurückgewiesen wurden. Die unveröffentlichte Ursprungsversion dieser »Thesen« hatte zum großen innerparteilichen Erstaunen eine Korrektur am bisherigen ideologischen Selbstverständnis formuliert.
In »These 12« innerhalb des Kapitels »Die DKP in der heutigen Zeit« hieß es dort: »Die Theorien von Marx, Engels, Lenin, Luxemburg, Gramsci und andere (sic!) Denker des wissenschaftlichen Sozialismus lassen uns vieles begreifen, wenn wir sie nicht als ›starre Orthodoxie‹, sondern im kritischen und dialektischen Sinne verstehen und anwenden.«
Rosa Luxemburg und Antonio Gramsci sollten also nach dieser Auffassung auf demselben politischen und theoretischen Rang wie die »Klassiker« Marx, Engels und Lenin stehen, nach denen die Weltanschauung der Kommunisten als »Marxismus-Leninismus« bezeichnet wird.
In der dann veröffentlichten Fassung (jetzt als »These 11«) wird die zuvor behauptete Gleichrangigkeit von Luxemburg und Gramsci mit Marx, Engels und Lenin formal abgeschwächt. Es heißt jetzt nur noch: »Die Theorien von Marx, Engels, Lenin und anderer Denker des wissenschaftlichen Sozialismus wie Luxemburg, Gramsci, lassen uns vieles begreifen (…).« Aber es bleibt auch nach der Endversion der »Thesen« bei fünf nahezu gleichrangigen Haupttheoretikern des Marxismus.
Eindeutigkeit oder Beliebigkeit
Die Frage liegt nahe, warum es gerade diese »Big Five« sein sollen. Denn es wären theoretisch auch weitere Anwärter auf den »Klassiker«-Status vorstellbar: G. Plechanow, K. Kautsky, W. Liebknecht, F. Mehring, K. Liebknecht, E. Thälmann, N. Bucharin, G. Lukács, L. Trotzki, G. Sinowjew, E. Varga, Mao Zedong, Ho Chi Minh, J.W.Stalin, A. Cunhal, P. Togliatti, C. Zetkin, F. Castro, Che Guevara, etc. pp.
Warum diese weniger bedeutsam sein sollten als Luxemburg und Gramsci müßte also wenigstens erklärt werden. Dies erfolgt jedoch nicht.
Die beiden derart Favorisierten wären von sich aus nie auf den Gedanken gekommen, sich auf eine Stufe mit den Begründern des wissenschaftlichen Sozialismus, Marx und Engels, zu stellen. Rosa Luxemburgs Satz auf dem Gründungsparteitag der KPD »Wir sind wieder bei Marx, unter seinem Banner« und ihre respektvolle Titulierung von Marx und Engels als »unsere großen Meister« verdeutlichen, wie wenig ambitiös sie in dieser Hinsicht war. (R. Luxemburg: Unser Programm und die politische Situation. Rede auf dem Gründungsparteitag der KPD, in: Gesammelte Werke, Band 4, Frankfurt 1971, S.491f.)
Und Antonio Gramsci wäre es niemals eingefallen, sich mit Lenin zu vergleichen oder gar sich mit ihm auf eine Stufe zu stellen, stammt doch von ihm die mehrfach vorgetragene Forderung, daß man kein Kommunist sein könne, wenn man nicht gleichzeitig auch »Leninist« sei. (A. Gramsci: Zu Politik, Geschichte und Kultur. Leipzig 1980, S.122, 127)
Aber es geht ganz offensichtlich auch gar nicht um das »objektive« Gewicht der beiden Kommunisten Luxemburg und Gramsci, sondern um etwas völlig anderes. Denn was bedeutet und was bewirkt die Konstruktion der neuen »Big Five«?
Zunächst wird folgendes erreicht: Die einheitliche Lehre von Marx, Engels und Lenin zerfließt in ein Nebeneinander von verschiedenen linken Meinungen und Interpretationen unterschiedlicher Qualität. Was gemeinhin als »Marxismus-Leninismus« bezeichnet und in den Dokumenten der DKP mit »Lehre(n) von Marx, Engels und Lenin« beschrieben wird, soll mit der Addition der zwei neuen »Klassiker« aufgebrochen werden.
Zu diesem Zweck sollen offenkundig diese beiden Kommunisten als »Ergänzungen« in das bisherige theoretische Gesamtgebäude des Marxismus-Leninismus inkorporiert werden. Was bewirkt das?
Auch diese Antwort ist leicht; es gibt dafür ein sehr altes und fast langweilig anmutendes Argument: Luxemburg und Gramsci sollen endgültig zu Protagonisten eines nichtleninistischen oder gar antileninistischen »demokratischen Kommunismus« bzw. »demokratischen Sozialismus« stilisiert werden. Sie sollen zu Konterparts der angeblich diktatorischen Tendenzen bei Lenin – aber auch bei Marx – werden.
Nur ein historischer Ignorant kann übersehen, daß die beiden neuen »Klassiker« ein anderes politisches und theoretisches Kaliber darstellen als die bisher vertrauten drei »Großen«.
Warum sollen damit stillschweigend die bestehenden inhaltlichen Unterschiede und Differenzen zwischen ihnen nivelliert – oder umgekehrt – als Teil einer dann in sich widersprüchlichen Gesamtkonzeption eines »pluralistischeren« Marxismus akzeptiert werden? Was bedeutend das für die innere Stringenz des Marxismus-Leninismus als eines wissenschaftlich definierten Gesamtsystems von Philosophie, Ökonomie und Politik?
Die Antwort und die Konsequenz ist mir jedenfalls klar: Die Theorie des Marxismus-Leninismus zerfällt in Beliebigkeit! Und damit die theoretischen Grundlagen zum Beispiel auch der DKP.
»Große Lehrerin«
Kein anderer als W.I.Lenin, mit dem sie zu Lebzeiten so manchen grundsätzlichen Strauß ausgefochten hatte, schrieb ergreifende Worte auf den Tod der ermordeten KPD-Mitbegründerin. Sie kannten einander persönlich sehr gut. Rosa Luxemburg hatte als führendes Mitglied der Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauen vor 1905 vereinzelt auch an Parteitagen der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands (SDAPR) und Konferenzen der (II.) Sozialistischen Internationale teilgenommen und war dabei mal für und mal gegen Lenin aufgetreten.
Lenin rühmte sie als »Adler der Revolution«, deren Werke für Generationen von Kommunisten in der ganzen Welt eine »nützliche Lehre« sein würden. Dieser Bewertung und historischen Einordnung tut es keinerlei Abbruch, wenn damals wie heute auch ihre politischen und theoretischen Fehler nicht unter den Teppich gekehrt werden, um ihr den Status und Nimbus einer »Klassikerin«, vergleichbar mit Marx, Engels und Lenin, anzudichten. Lenin verteidigte prinzipiell die proletarische Revolutionärin und Kommunistin Rosa Luxemburg gegen die Vereinnahmung als »demokratischer Gegenpol« zu den Bolschewiki auch dann, wenn er schrieb:
»Rosa Luxemburg irrte in der Frage der Unabhängigkeit Polens; sie irrte 1903 in der Beurteilung des Menschewismus; sie irrte in der Theorie der Akkumulation des Kapitals; sie irrte, als sie im Juli 1914 neben Plechanow, Vandervelde, Kautsky u.a. für die Vereinigung der Bolschewiki mit den Menschewiki eintrat; sie irrte in ihren Gefängnisschriften von 1918 (wobei sie selbst beim Verlassen des Gefängnisses Ende 1918 und Anfang 1919 ihre Fehler zum großen Teil korrigierte). Aber trotz aller dieser ihrer Fehler war sie und bleibt sie ein Adler, und nicht nur die Erinnerung an sie wird den Kommunisten der ganzen Welt immer teuer sein, sondern ihre Biographie und die vollständige Ausgabe ihrer Werke (mit der sich die deutschen Kommunisten in unmöglicher Weise verspäten, was nur teilweise mit den unerhört vielen Opfern in ihrem schweren Kampf zu entschuldigen ist), werden eine sehr nützliche Lehre sein bei der Erziehung vieler Generationen von Kommunisten der ganzen Welt.« (W.I.Lenin: Notizen eines Publizisten, 1922, in: Lenin Werke, Bd. 33, S.195)
Rosa Luxemburgs wissenschaftliche Stärke, ihre Originalität und die Systematik ihres theoretischen Schaffens in der Auseinandersetzung mit dem Revisionismus in der alten SPD hebt sie aus der Riege der anderen damals wichtigen marxistischen Publizisten hervor. Ihre Kenntnisse als Ökonomin und ihre Analyse des damals modernen und neu entstandenen Imperialismus/Monopolkapitalismus sind trotz einiger wichtiger Fehleinschätzungen bis heute beeindruckend. Ihre politisch-praktische Wirksamkeit gegen den imperialistischen Ersten Weltkrieg und in der deutschen Novemberrevolution wies eine enorme moralische Qualität auf, so daß sie mit Recht eine große historische Figur der internationalen revolutionären Arbeiterbewegung wurde.
Die sich derzeit auf einer bitteren politischen und organisatorischen Durststrecke mühsam vorankämpfenden Mitglieder der DKP, die in der ungebrochenen programmatischen und personellen Tradition der von Luxemburg mitgegründeten Partei stehen, haben die Pflicht, ihr theoretisches Werk und politisches Erbe weiterzuführen. Gerade deshalb hat die DKP aber auch die Aufgabe, ihre politischen und theoretischen Schwächen sowie die propagandistische Vereinnahmung der Kommunistin für einen sogenannten »demokratischen Sozialismus«, einen gegen den revolutionären Gehalt der Lehren von Marx, Engels und Lenin gerichteten »pluralen Marxismus« oder ihre Gleichstellung mit Marx, Engels und Lenin zurückzuweisen. Dazu gehört auch, weitere theoretische Defizite und Fehler, die sie in wichtigen Fragen wie der Parteitheorie beging, nicht zu leugnen.
Dabei geht es absolut nicht um eine rückwärtsgewandte Rechtfertigung des »Klassiker«-Status von Lenin und des Leninismus. Die Hypostasierung der Kommunistin und »großen Lehrerin« zur vierten oder fünften »Klassikerin des Marxismus« richtet sich nicht nur gegen den Leninismus. Sie richtet sich gegen den revolutionären Kern der marxistischen Revolutions-, Demokratie- und Staatstheorie und damit gegen die Einheit von Politik, Philosophie und Theorie auch der Lehren von Marx und Engels.
Mythenbildung
Wie vor über 30 Jahren Bernhard von Mutius in seiner »Rosa Luxemburg Legende« schrieb, geht es in der ideologischen Auseinandersetzung zwischen dem revolutionären Marxismus-Leninismus (der sich verkörpert in der Partei der Kommunistinnen und Kommunisten) und den ideologischen Verteidigern des Systems der kapitalistischen Ausbeutung (in ihren diversen Varianten) auch um die Funktionalisierung der »Legende« Rosa Luxemburg. (Vergl. B. von Mutius: Die Rosa Luxemburg-Legende Band I, Frankfurt 1978)
Diese Legendenbildung setzte unmittelbar nach ihrem Tod ein und schlachtete dabei vor allem einen weltweit berühmt gewordenen Satz aus einem zur Selbstverständigung und abgeschottet von Informationen geschriebenen Manuskript (»Zur russischen Revolution«) aus. Es waren nicht zur Publikation gedachte Reflexionen über die erste Phase der russischen Oktoberrevolution in der Haft in der Festung von Wronke im Frühjahr 1918. Sieht man sich die Kopie dieser Manuskriptseite an, so wird deutlich, welche untergeordnete Rolle, diese kaum zu entziffernde kleine Randbemerkung innerhalb eines die eigenen Unsicherheiten deutlich reflektierenden schriftlichen Durcheinanders im Rahmen dieses Textes eigentlich besaß. (Vergl. das Faksimile in der Luxemburg-Biographie von Annelies Laschitza »Im Lebensrausch, trotz alledem. Rosa Luxemburg« – dort abgedruckt in der Fotofolge zwischen den Seiten 340–341.)
B.v.Mutius schrieb zur Funktion dieses legendenbildenden Satzes: »Der Satz ›Die Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden‹ hat Geschichte gemacht. Nicht an sich, roh und zusammenhangslos, sondern in einer bestimmten Form gedacht – im Gegensatz zu Lenin, zum Bolschewismus, zum ›diktatorischen‹ Kommunismus. Als menschlicher freiheitlicher Appell gegen den ›rohen‹, ›gewaltsamen‹, ›dirigistischen‹, ›zentralistischen‹ Sozialismus, als Ausdruck des schöpferischen Marxismus im Gegensatz zur ›dogmatischen Marxorthodoxie‹. (…) Man kann ihn als Morgengebet sprechen und anschließend jemanden, der die Freiheit eines anderen gestört hat, zum Schafott führen. Man kann ihn in Zeiten der Krise in einer Aufsichtsratssitzung fallenlassen und damit die Entlassung von Arbeitern begründen; (…) Man kann ihn mit einem Wort des Bedauerns aussprechen und im selben Atemzug und genau mit diesem Atemzug begründen, daß Rosa Luxemburg hinter Gitter gebracht werden mußte, da ihre Revolution die Freiheit der anderen, andere auszubeuten, gefährdet. (…) Weil man all das mit dem Satz anstellen kann – denn die Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden – ist er völlig wertlos, um die Freiheit der Millionen, die tagtäglich ihre Arbeitskraft zu Markte tragen müssen, auch nur ein Stück voranzubringen.« (B.v.Mutius, a.a.O., S.6f)
Neu ist, daß sich nun offenbar auch »gestandene« Mitglieder der DKP dadurch verunsichern lassen. Dabei müßten sie doch wissen, worum es bei dieser Art von scheinheiliger Luxemburg-Verehrung geht. Der Autor einer neueren kurzen biographischen Skizze über Luxemburg, Jörn Schütrumpf, bringt dies in einem Aufsatz noch einmal sehr deutlich so auf den Nenner: »Eine Emanzipation mit antiemanzipatorischen Mitteln und Methoden, also das leninistische Politikkonzept (…) hätte für Rosa Luxemburg eine Aufgabe ihres politischen Ansatzes bedeutet.« (J. Schütrumpf: Rosa Luxemburg oder: Die Freiheit der Andersdenkenden, zit. n. www.sopos.org)
Kein Bruch mit Lenin
Man ist geneigt, ein kleines Rätselspiel zu veranstalten. Von wem stammt folgende Aussage?
»Die von der Geschichte auf die Tagesordnung gestellte Frage lautet: bürgerliche Demokratie oder sozialistische Demokratie. Denn Diktatur des Proletariats, das ist Demokratie im sozialistischen Sinne. Diktatur des Proletariats, das sind nicht Bomben, Putsche, Krawalle, ›Anarchie‹, wie die Agenten des kapitalistischen Profits zielbewußt fälschen, sondern das ist der Gebrauch aller politischen Machtmittel zur Verwirklichung des Sozialismus zur Expropriation der Kapitalistenklasse – im Sinne und durch den Willen der revolutionären Mehrheit des Proletariats, also im Geiste sozialistischer Demokratie.«
Die Antwort lautet: Rosa Luxemburg schrieb dies in einem ihrer vielen Grundsatzartikel in der Roten Fahne vom 20.11.1918, kurz nach dem Ausbruch der deutschen Novemberrevolution. (R.Luxemburg: Die Nationalversammlung, in: GW, Bd. 4, S.409f)
Und wer vertrat die folgende Auffassung?
»Die Diktatur des Proletariats ist eine besondere Form des Klassenbündnisses zwischen dem Proletariat, der Avantgarde der Werktätigen, und den zahlreichen, nichtproletarischen Schichten der Werktätigen (Kleinbürgertum, Kleinbesitzer, Bauernschaft, Intelligenz usw.) oder deren Mehrheit, eines Bündnisses gegen das Kapital, eines Bündnisses, um das Kapital restlos zu stürzen, den Widerstand der Bourgeoisie und Restaurationsversuche von ihrer Seite endgültig niederzuschlagen, eines Bündnisses, um den Sozialismus ein für allemal zu erreichen und zu festigen.«
Diese grundsätzliche Positionierung zur Frage der revolutionären Gewalt und der politischen Macht der Arbeiterklasse stammt von W.I.Lenin (Vergl. W.I.Lenin: Vorwort zur Rede »Über den Volksbetrug mit den Losungen«, in: Werke Bd. 29, S.369f). Von Lenin, dem angeblichen Propagandisten einer »Macht, die keine Gesetze kennt«, der aber damit lediglich verdeutlichte, daß die proletarisch-sozialistische Demokratie sich nach anderen Regeln und Gesetzen richten muß als nach denen der Ausbeutergesellschaft. Wo liegt da der grundsätzliche Dissens zwischen Rosa Luxemburg und Lenin?
Theoretikerin der »Realpolitik«?
Zur Verteidigung Rosa Luxemburgs gehört zum einen die Klarstellung, daß sie – ebenso wie Lenin – eine eindeutige Verfechterin der proletarisch-sozialistischen Revolutionstheorie und die Vertreterin der revolutionär-marxistischen Staats- und Demokratieauffassung war. Zur Verteidigung Rosa Luxemburgs gehört zum zweiten die Klarstellung, wie sie die Dialektik von Reform und Revolution sah – nämlich auch im kommunistischen, d.h. im leninschen Sinne.
Wenn die Vorsitzende der Partei Die Linke, Gesine Lötzsch, in ihrem ansonsten bemerkenswerten und auch mutigen Beitrag »Wege zum Kommunismus« aus Anlaß der diesjährigen Rosa-Luxemburg-Konferenz der jungen Welt die Mitbegründerin der KPD für die Traditionslinie ihrer »demokratisch-sozialistischen« Partei reklamierte und sich auch auf sie berief, um ihr eigenes Verständnis von linker »Realpolitik« zu begründen, muß ihr bei aller notwendigen Solidarität unter Linken dennoch klar widersprochen werden.
Lötzsch bezog sich auf eine Passage der Rede von Rosa Luxemburg auf dem Gründungsparteitag der KPD, in der diese erklärt hatte: »So soll die Machteroberung nicht eine einmalige, sondern eine fortschreitende sein, indem wir uns hineinpressen in den bürgerlichen Staat, bis wir alle Positionen besitzen und sie mit Zähnen und Nägeln verteidigen.« (R.Luxemburg: Unser Programm und die politische Situation. A.a.O., S.509)
Luxemburg sprach an dieser Stelle eindeutig davon, daß die erste, auf rein politische Änderungen zielende Etappe der Novemberrevolution, die jedoch keine besonderen grundsätzlichen Effekte auf die Machtverteilung im Staat erbracht hätte, beendet sei. Nun müsse eine Etappe »des verstärkten, gesteigerten, in der Hauptsache ökonomischen Kampfes« (a.a.O. S.503) folgen, in der die Arbeiter-und Soldatenräte und die neu zu schaffenden Räte auf dem »flachen Land«, den Boden des Ebert-Scheidemann-Regimes so weit »unterminieren (müssen), daß er reif wird zu dem Umsturz, der dann unser Werk zu krönen hat«. (a.a.O., S.510)
Dies hat mit einer in die Länge gezogenen angeblich »revolutionären« Reformstrategie nichts zu tun, sondern war eine Momentaufnahme innerhalb der damaligen revolutionären Kämpfe, in der Rosa Luxemburg die Basis für den Angriff auf die Machtpositionen der bürgerliche Klassenherrschaft verbreitern wollte. Dies läßt sich keinesfalls mit der von der Partei Die Linke verfolgten nebulösen Strategie des »großen transformatorischen Prozesses gesellschaftlicher Umgestaltung für den demokratischen Sozialismus des 21. Jahrhunderts« (Programmentwurf der Partei Die Linke, Zeile 1004–1005) auf einen Nenner bringen.
Der auf Rosa Luxemburg zurückzuführende Begriff der »revolutionären Realpolitik« besaß bei ihr eine völlig andere politische und strategische Bedeutung, als ihr derzeit unterlegt wird. In einem wenig beachteten Gedenkartikel zum 20.Todestag von Karl Marx erläuterte Rosa Luxemburg dieses Konzept folgendermaßen: »Die proletarische Realpolitik ist (…) revolutionär, indem sie durch alle ihre Teilbestrebungen in ihrer Gesamtheit über den Rahmen der bestehenden Ordnung, in der sie arbeitet, hinausgeht, indem sie sich bewußt nur als das Vorstadium des Aktes betrachtet, der sich zur Politik des herrschenden und umwälzenden Proletariats machen wird.« (Rosa Luxemburg: Karl Marx, in: GW Band 1/2, Berlin 2000, S. 373 f)
Reform und Revolution
Rosa Luxemburgs Vorstellung von revolutionärer Realpolitik besteht darin, daß jeder Schritt der Tagespolitik sich aus der historischen Perspektive des Bruchs und der Überwindung des Kapitalismus definiert und nur einen Teil des »Vorstadiums« der proletarischen Revolution darstellt. Das hatte nichts mit einer Abwandlung oder Neuauflage der alten Kautskyschen »Ermattungsstrategie« zu tun, bei der die Frage des »revolutionären Momentums«, der Akt des revolutionären Bruchs und seiner Vorbereitung ausgeblendet bleibt. Die von der Linkspartei reklamierte »Tradition gesellschaftsverändernder, radikaler Realpolitik« kann sich daher nicht auf Rosa Luxemburg berufen. Rosa Luxemburg, die wütende und leidenschaftliche Kritikerin des Revisionismus und des Opportunismus muß in Schutz genommen werden vor allen Manipulationen an ihr und an ihrem theoretischen Werk. Das ist die Aufgabe revolutionärer Marxisten und der organisierten Kommunisten – nicht ihre »Heiligsprechung« zum Zwecke ihrer politischen Kastration.
Dr. Hans-Peter Brenner, Diplompsychologe und Psychotherapeut, Mitglied des Parteivorstands der DKP und Mitherausgeber der Marxistischen Blätter