Im Anschluß an den marxistischen Philosophen Werner Seppmann verstehe ich die Postmoderne als Bewußtseinsform einer bestimmten Stufe der kapitalistischen Gesellschaft: der entwickelten imperialistischen Gesellschaft; Bewußtseinsform also des Weltzustands der Gegenwart, bezogen auf die imperialistischen Metropolen. Die Postmoderne ist Bewußtseinsform dieses Weltzustands in einem umfassenden Sinn. Sie geht, als Erfahrungsform alltäglicher Entfremdung, aus Alltag und Lebensweise hervor, reicht in Kulturindustrie, Medien, Künste, Wissenschaften und »große« Theorie hinein, ja hat in diesen (mit der Ausnahme der Naturwissenschaften) oft den Status einer Dominanz. Das Zentrum postmodernen Bewußtseins ist der zivilgesellschaftliche Bereich, seine theoretisch avancierteste Verarbeitungsform die poststrukturalistische Theorie, mit Schwerpunkten in Europa (Frankreich) und den USA. Als Bewußtseinsform ist die Postmoderne ubiquitär; ubiquitär im Hinblick auf die Metropolen des imperialistischen Systems. In diesen repräsentiert sie, sie nicht allein, aber doch als dominante ideologische Macht, das Bewußtsein des Ensembles gegenwärtiger gesellschaftlicher Verhältnisse.
Der Gesichtspunkt, den ich diskutieren möchte, betrifft zwei zusammenhängende Aspekte: den konstitutionellen Irrationalismus der imperialistischen Gesellschaft und das postmoderne Bewußtsein als seine »modernste«, auf heutigem Niveau »avancierteste« Gestalt. In diesem Zusammenhang ist das postmoderne Bewußtsein noch genauer in den Zusammenhang gegenwärtiger Gesellschaft zu stellen als bisher geschehen, ist der Ort zu bestimmen, an dem es ideologiegeschichtlich steht. Es geht also um zweierlei: 1. den Konnex von Irrationalismus und imperialistischer Gesellschaft, 2. Ort und Funktion der Postmoderne in diesem Zusammenhang.
Komplementäre Widersprüche
In einer Arbeit Seppmanns zum Begriff herrschenden Denkens findet sich der Schlüssel, mit dessen Hilfe diese Fragen theoretisch gelöst werden können. So notiert Seppmann, im Anschluß an Überlegungen Leo Koflers, einen fundamentalen Widerspruch innerhalb des gegenwärtigen Alltagsbewußtseins. Die Alltagsorientierungen, argumentiert er, besitzen einen »Doppelcharakter«. Sie sind nicht einfach nur »falsches Bewußtsein«, sondern zugleich auch Gedankenformen, »mit denen die Menschen ihr Leben bewältigen«. Sie ermöglichen die Orientierung in einer begrenzten Praxiskonstellation, blenden dabei aber das gesellschaftliche Ganze notwendig aus. Dieser »Umschlag von individueller Rationalität in soziale Irrationalität« hat sein formationsspezifisches Äquivalent in dem Widerspruch, der den entwickelten Kapitalismus als ganzen auszeichnet. Als Vergesellschaftungsweise hat dieser »die Rationalität in den Teilbereichen extrem gesteigert (…), das Zusammenspiel der technischen wie auch der sozialen Kräfte aber dem blind produzierten ›Zufall‹ überantwortet«. Er bringt deshalb »permanent Entfremdung und verzerrte Bewußtseinsformen hervor«. (Seppmann 2001, 171) Seppmann verweist damit auf einen fundamentalen Widerspruch, der den Kern der gegenwärtigen imperialistischen Gesellschaft, ja das Ensemble ihrer gesellschaftlichen Verhältnisse betrifft: der enormen Steigerung von Partialrationalitäten steht die Irrationalität des Ganzen dieser Gesellschaft ohne Vermittlung gegenüber.
Es ist dies eine Einsicht strukturell grundlegenden Charakters. Da aus ihr nähere Bestimmungen gerade auch für die Kultur und die Bewußtseinsformen der gegenwärtigen Gesellschaft folgen, bildet sie den geeigneten Einsatzpunkt für die geforderte weiterführende Überlegung.
Die Diagnose der »Irrationalität« der imperialistischen Gesellschaft ist, für sich selbst genommen, nicht neu. Die »zunehmende Irrationalität des Ganzen«, bezogen auf die gegenwärtige Gesellschaft, wird schon von Herbert Marcuse konstatiert (Marcuse 1967, 263), und auch Adorno spricht von der »Irrationalität der bürgerlichen Gesellschaft in ihrer Spätphase«, die »widerspenstig dagegen« sei, »sich begreifen zu lassen« (Adorno 1961, 192). Wolfgang Fritz Haug sieht den »transnationalen High-Tech-Kapitalismus« der Gegenwart als »Epoche einer global gewordenen Irrationalität, die aus dem Getriebe von Myriaden gegeneinander operierender ›particular interests‹ resultiert« (Haug 2003, 64). Das Grundproblem wurde bereits von Georg Lukács in »Geschichte und Klassenbewußtsein« (1923) herausgearbeitet. Lukács setzt dort der Zweckrationalität der einzelnen Teilbereiche die auf der Anarchie des Marktes beruhende Irrationalität des Gesamtprozesses entgegen. Der »ganze Aufbau der kapitalistischen Produktion« beruhe auf der »Wechselwirkung von streng gesetzlicher Notwendigkeit in allen Einzelerscheinungen und von relativer Irrationalität des Gesamtprozesses«, die »wahre Struktur der Gesellschaft erscheint (…) in den unabhängigen, rationalisierten, formellen Teilgesetzlichkeiten« (Lukács 1968, 277). Diese Auffassung behauptet die Irrationalität des Ganzen nicht nur für den Imperialismus, sondern für die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft als Gesamtformation. Auch Haugs Ausführungen zur »Irrationalität des Kapitalismus« in dem jüngst erschienenen Band 6/II des »Historisch-kritischen Wörterbuchs des Marxismus« arbeiten das Irrationale als Moment der ökonomischen Formbestimmungen der gesamten kapitalistischen Produktionsweise heraus. Marx weise im »Kapital«, so Haug, an den ökonomischen Formbestimmungen »die durchgängige Irrationalität auf«, bei der Warenform bzw. Wertform wie »im Ganzen der kapitalistischen Ökonomie«. Mit Blick auf Rosa Luxemburgs Imperialismustheorie legt er den Gedanken nahe, daß der Potenzierung der Widersprüche im Imperialismus die Potenzierung des Irrationalen in allen Bereichen der Gesellschaft entspricht.
Es ist dies der für mich entscheidende Gesichtspunkt: Daß die im grundlegenden Kapitalverhältnis angelegte Irrationalität erst unter den Bedingungen seiner vollen Entfaltung – also im Imperialismus – eine das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse (im genauen Marxschen Sinn des Begriffs) determinierende Kraft erhält, die konstitutive Dominanz des Irrationalen damit erst für den Imperialismus und so auch in Differenz zu früheren Formen der Kapitalgesellschaft zu behaupten ist. So sehr das Irrationale dem Kapitalismus von Beginn an innewohnt, erst im Imperialismus erreicht es eine Qualität, die, weit über die ökonomische Struktur hinaus, die Gesellschaft als ganze betrifft, ihre lebensweltlich-kulturelle Wirklichkeit, ihre staatlich-politische Konstitution und ihre Bewußtseinsformen. Erst jetzt kann von einem konstitutionellen Irrationalismus dieser Gesellschaft als Formation gesprochen werden; konstitutionell bezogen auf ihre grundlegende Verfaßtheit.
Entfesselte Destruktivkräfte
Konstitutioneller Irrationalismus heißt freilich nicht (wie es Adorno behauptet hat), daß die imperialistische Gesellschaft keine »ratio« mehr habe, nach der die Kritik ihrer politischen Ökonomie geschrieben werden könnte. Es heißt vielmehr, daß ihre »ratio« in der – gesellschaftlich begründeten und deshalb auch gesellschaftlich erklärbaren – Dominanz des Irrationalen, im Mangel einer gesamtgesellschaftlichen Rationalität bei Zunahme von Rationalität in den Teilbereichen, in dem auf die Spitze getriebenen Widerspruch zwischen Partialrationalität und Irrationalität des Ganzen besteht. Im Unterschied zur Aufstiegsphase des Kapitalismus als historischer Formation, in der rationales Handeln in einem gesamtgesellschaftlichen Sinn Bedingung zivilisatorischen Fortschritts war (die bürgerlichen Revolutionen wären ohne ein die gesamte Gesellschaft betreffendes Konzept, ohne die gesamtgesellschaftliche Zielsetzung der Agierenden gar nicht möglich gewesen), ist in der gegenwärtigen Phase dieser Formation jede gesamtgesellschaftliche Rationalität, die mehr ist als eine den Interessen des Profits gehorchende Logik der Unterwerfung, eliminiert. Eine solche Logik ist zwar der globalen Herrschaft fähig, doch keiner Rationalität, die das Ganze im Interesse der Gattung vertritt. So hält der globalen Expansion des Kapitals keine globale Vernunft die Waage, und kein Weltgeist zeigt sich, der den Mechanismus dieser Expansion zu einem sinnvoll Allgemeinen zu wenden vermag.
Zur Irrationalität des Ganzen gehören die zerreißenden, für die imperialistische Gesellschaft selbst potentiell letalen Widersprüche, die die Produktivkraftentwicklung des globalen Kapitals begleiten. Einer dem Anschein nach grenzenlosen Erweiterung wissenschaftlicher Rationalität und, im Verbund damit, historisch beispiellosen Steigerung technologischer Produktivkräfte steht die Zerstörung massenhafter Potentiale menschlicher Produktivkraft gegenüber: die Reduktion der menschlichen Arbeitskraft auf primitivste zivilisatorische Stufen. Der Vorgang solcher Zerstörung betrifft heute die große Mehrheit der Weltbevölkerung. Hand in Hand geht damit eine Vernichtung kultureller Vermögen, die in der Geschichte ohne Beispiel ist. In Jahrtausenden gewachsene Fähigkeiten kultureller Produktion werden in kürzestem Zeitraum obsolet; eine Obsolenz, die durch keine neuen Qualifikationen ersetzt wird. Steht auf der einen Seite eine von einer kleinen Gruppe von Experten des szientifisch-technologischen Sektors betriebene, an die Kapitalakkumukation geknüpfte, vom Kapital kontrollierte technologische Produktivkraftentwicklung von singulärer Qualität, so auf der anderen die millionenfache Auslöschung menschlicher Arbeitsvermögen, die massenhafte Annihilation kultureller Schöpferkraft. Proportional zur Steigerung der szientifisch-technologischen Produktivkräfte, dies ist als Gesetz des entwickelten Imperialismus festzuhalten, steht die Reduktion des Produktivkraftvermögens eines zunehmend größer werdenden Teils der Weltbevölkerung. Dem entspricht die Proportion von Reich und Arm in globalem Maßstab. Während ein kleiner Teil der Menschheit über unermeßlichen Reichtum verfügt, begonnen hat, den Kosmos zu erobern, vom »Zeitalter der künstlichen Intelligenz (träumt), in dem die Maschine ein eigenes Bewußtsein erhält« (Schirrmacher 2001, 1) und sich mit Fragen unbegrenzter Lebensverlängerung als historischen Schicksalsfragen zu befassen beginnt, versinkt die Masse der Erdbevölkerung in Elend und archaische Unwissenheit, werden ganze Kontinente von Hunger, Krieg und Seuchen verheert, kehren mit den neuen Schrecken die alten zurück. Die technologischen Produktivkräfte selbst sind in vielen Fällen von Instrumenten des Fortschritts zu solchen der Weltzerstörung geworden, die kühnsten Erfindungen der menschlichen Vernunft zu Monstren der Massenvernichtung. Eine Situation ist eingetreten, in der, mit den Worten von Bertolt Brechts Galilei, der »Jubelschrei« der Wissenschaft »über irgendeine neue Errungenschaft von einem universalen Entsetzensschrei beantwortet werden könnte« (»Leben des Galilei«, 14. Bild).
Deformiert sind nicht nur die Anwendungen wissenschaftlicher Erfindungen unter den Bedingungen des Imperialismus, deformiert ist die technologische Rationalität selbst, die seiner Produktivkraftentwicklung zugrunde liegt. Sie steht unter dem uneingeschränkten Diktat des Tauschwerts, dem sie sich nirgendwo – und wenn, dann nur scheinbar – entziehen kann. Sie ist eingebunden in die Zwänge verwertungsorientierter Veränderung und permanenter Innovation, untersteht einem Konkurrenzkampf, der weder begrenzbar noch berechenbar ist. Solcher Rationalität wohnt das Irrationale, wohnen Widersinn und Deformation als strukturierende Momente inne – so sehr es gerade zu den Illusionen der technologischen Vernunft gehört zu meinen, daß sie unter kapitalistischen Bedingungen dem Irrationalen entkommen kann.
Dem technologischen Fortschritt entspricht proportional der Prozeß progredierender Re-Barbarisierung. Sein Analogon hat die Zerstörung der kulturellen Ressourcen in der Zerstörung der Ressourcen der Natur. In die Zerstörung hineingerissen ist der Stoffwechsel von Mensch und Natur: die Basis aller Kultur. Damit aber gerät der gesamte Prozeß der Zivilisation in die Krise. Zu konstatieren ist die »Agonie ganzer Kontinente« (Seppmann). Die Elendszonen der Erde reichen heute in die Zentren der Metropolen, so in die urbanen Elendszonen US-amerikanischer, mittlerweile auch europäischer Großstädte hinein. Solchen Gründen entsteigen die bekannten und neuen Gestalten der Gewalt, der Aggression und des Hasses, entsteigen Rassismus, Sexismus, Sadismus, die Disposition zu Terror und Krieg. Der Imperialismus ist Zustand permanenten Kriegs, aktuell oder potentiell. Er ist »Epoche der Kriege und Revolutionen« (Lenin), was auch dort gilt, wo die Revolutionen gescheitert sind. Zu Recht nennt ihn Peter Weiss die »höchste Form der Brutalität«.
»Kultur des Todes«
Der Imperialismus in seiner entwickelten, gegenwärtigen Gestalt ist Zeitalter einer Krise von weltgeschichtlicher Dimension. In ihr steht eine menschenwürdige Zukunft, ja die Fortexistenz der menschlichen Gattung auf dem Spiel. Er ist Zeitalter einer krisengeschüttelten Endzeit. Sehr genau hat Antonio Gramsci den Charakter dieser Krise und das mit ihr verbundene historische Dilemma erfaßt, wenn er in den »Gefängnisheften« notiert, die Krise bestehe genau in der Tatsache, daß das Alte stirbt und das Neue nicht geboren werden kann; in diesem Zwischenreich trete eine Vielzahl krankhafter Symptome hervor. Der Gebrauch einer pathologischen Metapher geschieht nicht zufällig: Die Krise hat den gesamten Körper dieser Gesellschaft erfaßt. Sie ist nicht lokal, sondern universal, weil sie Ausdruck konstitutiver Widersprüche des Imperialismus selbst ist. Sie ist potentiell letalen Charakters und formuliert ein historisches Dilemma: Das Alte stirbt und das Neue kann noch nicht geboren werden. In diesem Zwischenreich tritt eine Vielzahl morbider Symptome hervor. In der Tat hat die »Morbidität« der imperialistischen Gesellschaft heute einen Umfang und eine Drastik erreicht, die kaum noch der empirischen Belege bedarf und den Gedanken eines universalen Entfremdungszusammenhangs, wie ihn Adorno und Horkheimer in ihrer späten Phase vertraten, für die imperialistischen Metropolen verständlich werden läßt; in einer Weise, daß begründet von einer pathischen Gesellschaft – einer »Kultur des Todes« – gesprochen werden kann.
Zum konstitutionellen Irrationalismus der gegenwärtigen imperialistischen Gesellschaft gehört, daß diese weder zu fundierter Selbsterkenntnis – einer umfassenden Theorie ihrer selbst – noch zu einem die Gesamtgesellschaft betreffenden ökonomischen und politischen Handeln mehr in der Lage ist. Gehandelt wird nach Maßgabe ökonomischer bzw. politisch-ökonomischer Partialinteressen. Das Resultat ist die Zunahme – nicht der Abbau – der dem Imperialismus innewohnenden Widersprüche. Dieser erweist sich als unfähig – nicht zufällig, sondern konstitutionell – auch nur ein einziges der die Menschheit heute bedrohenden Probleme zu lösen: Hunger, Krankheit, Verelendung, Krieg und Gewalt, Ungleichheit und Ausbeutung, die Zerstörung der Natur. Ja, er erscheint mehr und mehr außerstande zur Lösung auch von Problemen, die im Grunde in seinem ureigenen Interesse liegen. Darin liegt das eigentlich Gefährliche. Zunehmend verliert der Imperialismus die Fähigkeit zu seiner eigenen gesamtgesellschaftlichen Reproduktion. So nimmt er zu Handlungen seine Zuflucht, deren Folgen er im vollen Umfang weder einzuschätzen noch zu kontrollieren vermag. Der Imperialismus untergräbt damit tendentiell seine eigene Reproduktion. Er produziert ständig seine eigenen Totengräber, auch wenn diese Totengräber, anders als das klassische Proletariat, kein Bewußtsein ihres historischen Orts mehr besitzen und zunehmend zu Mitteln selbstzerstörerischen Widerstands ihre Zuflucht nehmen. D.h., der Imperialismus erzeugt seine Negation in der Form einer Gegnerschaft, die selbst vom Irrationalen gezeichnet ist, meist planlos und fanatisiert zurückschlägt. Auf die Irrationalität des Widerstands reagiert der Imperialismus wiederum in einer Spirale eskalierender Gewalt, deren Ende nicht absehbar ist, die ein katastrophisches Finale befürchten läßt. Die globale Herrschaft des imperialistischen Kapitals ist sicher vorstellbar, doch nicht anders denn als Herrschaft des Schreckens. Wenn das Kapital, wie Marx in seiner Hauptschrift sagt, »von Kopf bis Zeh, aus allen Poren, blut- und schmutztriefend« zur Welt gekommen ist (MEW, Bd. 23, 788), so wird es in keiner anderen Gestalt die Welt auch wieder verlassen. Die Gefahr besteht, daß es die gesamte menschliche Zivilisation in seinen Untergang hinein reißt.
Geist geistloser Zustände
Es gibt also gute Gründe – eine Reihe von Gründen –, vom konstitutionellen Irrationalismus des Imperialismus als gesellschaftlicher Formation zu sprechen. Der Irrationalismus ist Bewußtseinsform des Imperialismus in einem notwendigen Sinn; notwendig, weil mit dem Daseinsgesetz dieser Gesellschaft unlösbar verbunden. Er ist der bewußtlose Ausdruck der Irrationalität gegebener gesellschaftlicher Verhältnisse. Diese produzieren Irrationalismus als das ihnen gemäße Bewußtsein. Sie produzieren solches Bewußtsein auf allen Ebenen und in allen Gestalten des Bewußtseins, die diese Gesellschaft hervorbringt. Der Irrationalismus ist also in einem bestimmten Sinn die dieser Gesellschaft angemessene Vernunftform, ihre adäquate ideologische Gestalt. Er ist der Geist geistloser Zustände, die Vernunft einer widervernünftigen Welt. In diesem spezifischen Sinn aber ist er nicht nur Ausdruck von Unwahrheit, sondern er vermag auch, unter bestimmten Bedingungen und in bestimmter Form, Wahrheit zu verkörpern. Das bedeutet, der Irrationalismus ist in bestimmten Grenzen wahrheitsfähig. Seiner kritischen Geschichtsschreibung kann es deshalb nicht nur um den Nachweis seiner Unwahrheit, sondern muß es zugleich auch um das Ausarbeiten seiner Wahrheit gehen.
Der Irrationalismus ist die adäquate Vernunftform der imperialistischen Gesellschaft im Sinn expliziter wie impliziter Ideologien, also im Sinn ihres allgemeinen gesellschaftlichen Bewußtseins. Er durchdringt alle Bewußtseinsformen, die diese Gesellschaft hervorbringt: vom Alltagsbewußtsein über die Kulturindustrie bis in Kunst, Wissenschaft und große Theorie. Er entspricht damit der strukturellen Verfaßtheit dieser Gesellschaft auf allen ihren Ebenen Er geht aus ihren Alltagserfahrungen organisch hervor; in einer solchen Weise, daß von der Emergenz des Irrationalen in dieser Gesellschaft gesprochen werden muß. Das bedeutet: auf der Ebene der Erfahrung ergibt sich die Widervernunft »wie von selbst«. Sie ist tägliche Erfahrung des Bewußtseins, die auch dem Urteil des common sense ungebrochen zugrunde liegt. Sie ist der Dünger, in dem die expliziten Ideologien des Irrationalen prächtig gedeihen, und es bedarf der größten Anstrengung des Begriffs, diesen aus der Erfahrung stammenden Schein zu durchbrechen. Eine rationale Welterklärung heute schwimmt nicht nur gegen den Strom der Zeit, sie hat mit dem Geist der Zeiten auch den Schein der Tatsachen gegen sich. Sie ist dem ideologischen Schein der imperialistischen Gesellschaft abzuringen.
Postmoderne und Imperialismus. Teil II (und Schluß): Das Postulat von der Nicht-Erkennbarkeit der Welt – Feindschaft gegen gesellschaftliche Alternativen
Sind die Bewußtseinsformen, die die imperialistische Gesellschaft hervorbringt und in denen diese Gesellschaft sich spiegelt, mit Notwendigkeit solche der Irrationalität (zumindest der eingeschränkten Rationalität), so wechseln freilich die Gestalten des Irrationalen – seine Inhalte wie seine Formen – mit der Geschichte des Imperialismus selbst. Am Beginn dieser Geschichte – die von der deutschen Romantik bis zur Postmoderne reicht – stehen andere als an ihrem Ende. Trotz einer dem Anschein nach amorphen Vielgestalt läßt sich in dieser Geschichte eine Reihe fester Motive, eine ideologische Grundkonstellation ausmachen, die allen ihren Gestalten gemeinsam ist; in einer Weise, daß hier vom Irrationalen als einem historisch-logischen Schematismus gesprochen werden kann: Es handelt sich um einen logischen Schematismus, der seine geschichtlichen Gründe besitzt und in wechselnden geschichtlichen Formen auftritt. Der konstitutionelle Irrationalismus, dies ist meine Grundthese, liegt als historisch-logischer Schematismus der gesamten Kultur- und Geistesgeschichte des imperialistischen Zeitalters – der in diesem Sinn verstandenen Moderne –, liegt allen seinen geistigen Lebensäußerungen zugrunde, dem Alltagsbewußtsein wie den Künsten und der hohen Theorie, mögen sich die Träger dieser Lebensäußerungen dieses Tatbestands bewußt sein oder nicht. In einer ersten, stichwortartigen Liste sind, im Sinne einer Grundorientierung, folgende Motive zu nennen, die die ideologische Kernkonstellation des Irrationalismus – das Irrationale als Bewußtseinsform – konstituieren: ein erkenntnistheoretischer Agnostizismus und ontologischer Antirealismus (meist in der Form eines Anti-Materialismus), die Negation eines rational Allgemeinen, die Abwertung von Verstand und Vernunft, häufig verbunden mit dem Verweis auf diesen unzugängliche und übergeordnete Mächte oder Erfahrungen, die Inthronisation der Intuition als erstes Medium des Weltwissens, damit verbunden die Leugnung der Validität des wissenschaftlichen Wahrheitsbegriffs (in Extremfällen des Wahrheitsbegriffs überhaupt), das Leugnen rational verbindlicher (begründbarer und einsehbarer) ethischer, ästhetischer und politisch-rechtlicher Normen (so von Völker- und Menschenrecht), das Ersetzen rationaler Begründungen und begründeter Entscheidungen durch den dezisionistischen Akt, die Frontstellung gegen Aufklärung, Humanismus, Sozialismus, gegen rationalistisches Denken, wissenschaftliche Vernunft, Dialektik. Irrationalismus, so kann gesagt werden, heißt eine Weltauffassung und ein praktisches Verhalten, das die Erkennbarkeit und rationale Gestaltbarkeit (in Extremfällen auch die Existenz) objektiv gegebener (an-sich seiender, gesetzmäßig verfaßter) Wirklichkeit grundsätzlich leugnet, an die Stelle der Vernunft alogische Wesenheiten setzt (d. h. solche, die widervernünftig, der Vernunft prinzipiell unzugänglich, ›höher als die Vernunft‹ sind), im Sinn von Subjekt und Welt bestimmenden, also ontologisch determinierenden, sinnstiftenden Mächten.
Umfassende Theorielosigkeit
Nicht nur der explizite Irrationalismus in der Philosophie und den Künsten, sondern auch andere dominante Formen bürgerlichen Denkens im 20. Jahrhundert sind in letzter Analyse dem genannten Schematismus verhaftet. Dies gilt für Positivismus und analytische Philosophie ebenso wie für den Existentialismus und die Ideologien des Absurden. Sind erstere Reduktionsformen der Rationalität, so letztere Reduktionsformen des Subjekts bzw. der Versuch, die Irrationalität des Ganzen der Gesellschaft in einen ontologischen Widersinn zu transformieren. Alle diese geistigen Formen haben gemein, daß sie an der Erkenntnis der gegenwärtigen Gesellschaft als strukturierter Totalität – als historisches Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse – scheitern oder, wie die analytische Philosophie seit Wittgenstein, in bewußter Entscheidung auf solche Erkenntnis verzichten. – Diese Problematik betrifft nicht nur die Theorie, sondern im gleichen Maß auch die Künste.
Mit dem Begriff des logisch-historischen Schematismus ist keinem blinden Determinismus das Wort geredet. »Schematismus« meint hier einen logisch-historischen Bedingungsrahmen – ein Gefüge von geschichtlich determinierenden Bestimmungen des Bewußtseins und Denkens –, in dem geistige Äußerungen stehen und zu dem sie sich verhalten, denen sie sich unterwerfen, die sie aber auch in einem bestimmten Grad überwinden können. Selbstverständlich gibt es rationales Denken auch in der imperialistischen Gesellschaft, doch sicher nicht »naiv« – nicht ohne daß sich dieses mit seinen ideologischen Bedingungen, zu denen der Irrationalismus zentral gehört, auseinandergesetzt hat. Als Regel dürfte gelten, daß die Position eines bewußten Widerstands zum Imperialismus als Gesamtsystem – im gewissen Sinn: eine logisch-politische »Außenposition« – die epistemische Bedingung dafür ist, dieses System als historisches Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse zu durchschauen und damit als »strukturierte Totalität« (Leo Kofler) erkennen zu können. Nur eine im Prinzip oppositionelle Theorie kann den Gesamtprozeß noch als rationalen fassen, die Irrationalität des Ganzen rational diagnostizieren und damit auf den Begriff bringen. Von einer »Innenposition« her, d. h. von der Position prinzipieller Akzeptanz der gegebenen Produktions- und Herrschaftsverhältnisse (wobei diese Akzeptanz kein bewußter Akt zu sein braucht) ist eine solche Erkenntnis nicht möglich. Dies, nicht der mangelnde Intellekt ihrer Vertreter ist der Grund dafür, daß es heute, soweit ich sehe, keine bürgerlichen Theorien der gegenwärtigen bürgerlichen Gesellschaft mehr gibt, die deren Komplexität zu erfassen vermögen (man sage mir nicht, ein Habermas oder Sloterdijk hätte eine solche Theorie geliefert). Alles, was es noch gibt, sind Theorien von Teilaspekten.
Die Einsicht in den notwendigen Zusammenhang von imperialistischer Gesellschaft und Irrationalismus bedeutet nicht, daß das Irrationale ein in dieser Gesellschaft unaufhebbares Schicksal ist. Es kann, als Teil der Mechanismen der Gesellschaft, die es hervorbrachte, erkannt und durchschaut werden. Bedingung dafür freilich ist (als die Bedingung einer Möglichkeit, nicht als Garantie) eine bestimmte kognitive Haltung: die bewußte Opposition gegen den Imperialismus als Gesamtsystem. Eine solche Haltung ist heute zur Bedingung jeder Rationalität geworden, die mehr ist als Summe der gegebenen Partialrationalitäten – Bedingung für den Begriff der gegenwärtigen Gesellschaft als einer ganzen.
Unsinn mit Methode
Nach dem Gesagten kann kaum ein Zweifel daran bestehen, daß die Postmoderne in den Zusammenhang des Irrationalismus gehört. Die Negation des Allgemeinen und Universalen zugunsten einer partikularen Differenz, der programmatische Agnostizismus und das Theorem der Unerkennbarkeit der Welt, das Konzept der Wirklichkeit als Konstruktion, die Behauptung der Invalidität aller erkenntnistheoretisch-ontologischen, ethischen und ästhetischen Kernbegriffe (insbesondere des dialektischen Denkens), die Ablehnung jeder Art verbindlicher Normen, Ideale, Vorbilder, der programmatische Antirealismus, die These des disponiblen Subjekts, die Frontstellung gegen Rationalität, Wissenschaft, Aufklärung, Humanismus, Marxismus – an allen diesen Punkten ist der Irrationalismus an den Haaren zu greifen. Es ist also durchaus nicht zufällig, wenn die postmoderne Theorie bewußt und programmatisch an die Linie Schopenhauer, Kierkegaard, Nietzsche, Heidegger anschließt, in ihren aggressivsten Varianten (wie auch Manfred Frank notiert hat) auch auf Gedankenelemente eines Baeumler, Klages und Spengler zurückgreift, selbst wenn diese Traditionen weitgehend über den Umweg eines »neu-französischen«, »nach-poststrukturalistischen« Irrationalismus angeeignet werden.1 Ja, Derrida bezeichnet es geradezu als philosophische »Pflicht«, »alles zu tolerieren, was sich nicht der Autorität der Vernunft fügt«. Der zynische Schwindel im Umgang mit Wissenschaft, den Sokal und Bricmont bei namhaften Vertretern dieses Klubs aufgedeckt haben2, ist also alles andere als zufällig – der postmoderne Unsinn hat Methode. Der implizite Irrationalismus der Postmoderne ist freilich nicht allein bei den sogenannten Meisterdenkern manifest. Er legt sich wie Mehltau über die gesamte gegenwärtige Kultur- und Bewußtseinsindustrie und droht, jede echte individuelle Artikulation zu ersticken. Mittlerweile reicht er von Talkshow und Feuilleton bis in die hehren Höhen von Bayreuth und Salzburg. Seine Exzesse feiert er im sogenannten Regietheater. Gerade auf dem Gebiet der Künste tritt die Leugnung der Verbindlichkeit ästhetischer wie ethischer Normen, gerade auch von verbindlichen Kriterien der Wertung, in besonders drastischer Gestalt zutage.
Stabilisierende Funktion
In der Geschichte des Irrationalismus freilich besitzt die Postmoderne eine in mancher Hinsicht besondere Gestalt. Sie besetzt hier einen bestimmten historischen Ort. War der traditionelle Irrationalismus politisch meist mit konservativen, oft auch profaschistischen Optionen verbunden, so artikuliert sich dieser neue Irrationalismus in der Regel radikal, gelegentlich auch (zumindest in der Rhetorik) kapitalismuskritisch und »links«. Seppmann hat diesen Sachverhalt als »Paradox« der Postmoderne scharf herausgearbeitet: Diese setzt mit der Thematisierung von Krisenerfahrungen an, verschweigt aber deren reale Ursachen, bezieht sich positiv auf die Symptome eines radikalen sozio-kulturellen Wandels, lenkt jedoch von den sozio-strukturellen Konsequenzen ab. Die Postmoderne, so läßt es sich auch sagen, geht aus von den Widerspruchserfahrungen der entwickelten imperialistischen Gesellschaft, ist jedoch unfähig (oder auch nicht willens: im Resultat läuft beides auf das Gleiche hinaus), diese Widerspruchserfahrungen auf den Begriff zu bringen. Sie scheitert beim Erfassen dieser Widersprüche. Von ihren Voraussetzungen her kann sie dazu auch gar nicht imstande sein: weder von den theoretischen Prämissen noch von der ihr zugrunde liegenden logisch-historischen Position. Ich spreche von Scheitern, sofern sie noch ernsthaftes Denken und nicht nur Scharlatanerie und frivoles Spiel ist. Sie scheitert, so läßt sich sagen, an der Extremität dieser Widersprüche. Insofern ist sie Ideologie in einem sehr spezifischen Sinn: notwendig falsches Bewußtsein der entwickelten imperialistischen Gesellschaft. Dieser Punkt, meine ich, ist der Kern ihrer Genesis als Bewußtseinsform und ideologische Formation. In entwickelter und durchgesetzter Gestalt dann (im erläuterten Sinn einer Präsenz in allen gesellschaftlichen Bereichen) erfüllt sie die Funktionen, über die wir gesprochen haben und die im Effekt auf Affirmation und Stabilisierung imperialistischer Herrschaft hinauslaufen – ein Effekt, der um so wirksamer ist, weil er oppositionelle Potenzen integriert, in einer Weise, die keine offen affirmative oder gar konservative Ideologie zu leisten imstande wäre.
Es ist dieser Punkt, der noch einer abschließenden Erläuterung bedarf. Zu diesem Zweck beziehe ich mich auf einen Leitartikel von Ignacio Ramonet in der englischen Ausgabe von Le Monde diplomatique vom März 2002, »Die andere Achse des Bösen«. Ramonet schreibt:
»Wir müssen uns bewußt sein, daß der Neoliberalismus die Gesellschaftsordnung an drei Fronten angreift. Die ökonomische Front, die wichtigste, da sie die ganze Menschheit betrifft, steht unter der Leitung des Internationalen Währungsfonds, der Weltbank und der Welthandelsorganisation. Sie bilden die wirkliche Achse des Bösen. Dieses abscheuliche Triumvirat schafft umfassende Verheerungen und versucht, ein ökonomisches Programm durchzusetzen, das auf der Vorherrschaft des privaten Sektors und der Märkte wie des Profits beruht.
Die zweite Front ist ideologisch, und sie ist schweigsam und unsichtbar. Eine ganze Industrie gibt es, deren Ziel es ist, die Menschheit zu überzeugen, daß die Globalisierung universales Glück bringt. Diese Industrie benötigt die aktive Kollaboration der Universitäten und Forschungsinstitutionen sowie die Kooperation jener Medien, die von Journalisten weltweit kopiert werden. Bewaffnet mit Information, haben die ideologischen Krieger der Globalisierung eine Diktatur geschaffen, die von der schweigenden Komplizenschaft derer abhängt, die sie unterwirft.
Die dritte Front ist die militärische. (…).
Die Ära des Respekts für Menschenrechte ist vorbei. Die IWF/Weltbank/WHO-Achse des Bösen hat bislang ihre wahre Natur versteckt. Jetzt zeigt sie, was sie wirklich ist.«
Das Zitat war notwendig, weil der Text in äußerst präziser Form den Zusammenhang skizziert, in dem die Postmoderne als Bewußtsein und ideologische Formation ihre Wirkung entfaltet. So lautet meine These (ich bin mir sicher, daß von allen hier vorgetragenen Gedanken dieser mit der geringsten Akzeptanz zu rechnen hat), daß die Postmoderne Teil ist – versteckt, aber desto wirkungsvoller – der ideologischen Front der neoliberalen Offensive, vielleicht sogar ihr zentraler Teil. Die Postmoderne, meine ich, ist die adäquateste Bewußtseinsform des global expandierenden Imperialismus, seiner avanciertesten, »progressivsten« Fraktion.
Es wird einzusehen sein, daß alle direkt-affirmativen, insbesondere traditionell-konservativen Apologien der imperialistischen Expansion angesichts der Härte der produzierten Widersprüche mehr und mehr disfunktional geworden sind. Nur Ideologien, die diese Widersprüche und die mit ihnen verbundenen Erfahrungen der Krise und Entfremdung aufnehmen und verarbeiten (wie scheinhaft auch immer), haben die Chance auf weite Akzeptanz und Wirksamkeit. Der christliche Fundamentalismus der Bush-Fraktion etwa, wie andere offen reaktionäre und protofaschistische Ideologien, so gefährlich sie in bestimmten Lagen immer wieder sein mögen, ist im Grunde historisch obsolet. Die neoliberale Expansion benötigt Ideologien, die (wenn auch in einem rein formalen Sinn) einer globalen Demokratisierung das Wort reden, die Verschiedenheit der Kulturen und Vielfalt der Lebensstile akzeptieren – rassistische Theoreme sind dem avancierten Kapital heute hinderlich. Seine Idealgestalt ist die Figur des ewigen Konsumenten: des Käufers, dem das Geld nie ausgeht, und im globalen Supermarkt sind wir alle gleich. Das neoliberale Prinzip der Gleichheit ist unmittelbar ein ökonomisches: Es ist identisch mit dem des Tauschwerts. So wenig dieser Rassen kennt, so wenig kennt er Geschlechter. Die Gleichstellung der Frau ist, wiederum in einem rein formalen Sinn, dem avancierten Kapital durchaus kompatibel. So bedarf dieses der Ideologien, die sowohl nicht-rassistisch als auch, in bestimmter Begrenzung, feministisch sind. Political correctness ist ein Kind ganz nach seinem Sinn. Das avancierte Kapital kann sich also mit gutem Gewissen und ohne Heuchelei demokratisch nennen – so lange Demokratie sich auf tauschwertförmige Gleichheit, die égalité der gleiche Waren konsumierenden Konsumenten beschränkt. Es zeigt seine Zähne, wenn die formal Gleichen mehr wollen als dies: gleiche Rechte, Mitsprache, Mitentscheidung, angemessene Anteile am erwirtschafteten Reichtum, Bildung, Wissen und Wahrheit, vielleicht sogar Demokratie als Volksherrschaft – die Volksrepublik – einklagen; wenn sich die gleichgemachten Demokraten als aufmüpfig: als Aufklärer, Sozialisten, gar Kommunisten aufzuspielen wagen. Die Maske der Gleichheit wird dann sehr schnell abgelegt, und das Kapital zeigt sich als das, was es von Beginn an ist: ein sehr wirkliches Monstrum, »von Kopf bis Zeh, aus allen Poren, blut- und schmutztriefend« (Karl Marx, MEW Bd. 23, 788).
Geheime Komplizenschaft
Mit diesen Überlegungen befinden wir uns inmitten der Postmoderne. Sie erläutern, daß es sehr genau eine Ideologie wie die Postmoderne ist, der das avancierte Kapital bedarf: modern, schick, multi-kulti, politisch korrekt, ganz auf das Jetzt bezogen, ohne den Ballast der großen Erzählungen, der Geschichte und der Tradition, die Subjekte frei disponibel, flexibel und gewissenlos, mit Spiel und Spaß bei der Sache, Sex ohne Zwang, und doch auch mitreden könnend in Salzburg und Bayreuth (wenn man die Kohle hat), bei literarischem Quartett und philosophischer Talkshow, beim Geschwätz über die »Konstruktion des Humanen«, selbstverständlich »nach dem Humanismus«3, den Blick in eine Zukunft gerichtet, in der es »kein Weltbild mehr« gibt und »kein Subjekt«, »die Differenz zwischen Körper und Bild« verschwindet.4
Sämtliche gedanklichen Kernelemente des Postmodernismus, so ließe sich zeigen, entsprechen exakt dem, was heute von einer Ideologie des avancierten Kapitals – einer Ideologie, die an der ideologischen Front der neoliberalen Globalisierung ihre Funktion optimal erfüllt – erwartet werden kann. Sicher, die Komplizenschaft der Postmoderne mit der neoliberalen Offensive ist geheim – zur Funktionsweise dieser Ideologie gehört, daß sie geheim bleibt, gehört der Gestus der Radikalität, der Political correctness, gelegentlich auch als Ornament ein Stückchen Kapitalismuskritik. Aus dieser Komplizenschaft aber erklärt sich die Frontstellung: gegen Dialektik und Vernunft, gegen Utopien und Ideale, gegen die Erzählung, die geschichtlich erläutert und Zusammenhänge ins Bewußtsein trägt, gegen die Ableitung aus Gründen, gegen rationale Welterklärungen jeder Art. Diese Komplizenschaft erklärt vor allem die Feindschaft gegen Aufklärung und Kommunismus. Es ist die Feindschaft gegen die historischen Exponenten eines alternativen Lebensentwurfs.
1 dazu Seppmann, W., »Das Ende der Gesellschaftskritik? Die ›Postmoderne‹ als Realität und Ideologie«. Köln 2000, S. 267–274.
2 Sokal, A./Bricmont, J., »Intellectual Impostures. Postmodern Philosophers’ Abuse of Science«. London 1999 (deutsch München 1999).
3 Jäger, L., »Der Buchstabe macht lebendig. Nach dem Humanismus: Peter Sloterdijk, Michel Houellebecq, Alain Finkelkraut und Peter Weibel diskutieren im ZKM«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 5. Mai 2000.
4 Kruse, C., »Bilder an die Macht. Wissenschaftler aller Disziplinen feiern den ›Iconic Turn‹«. In: Süddeutsche Zeitung v. 5./6. Juni 2004.
Literatur:
Adorno, Th. W., »Noten zur Literatur II«. Frankfurt a. M. 1961.
Haug, W. F., »High-Tech-Kapitalismus. Analysen zu Produktionsweise, Arbeit, Sexualität, Krieg und Hegemonie«. Hamburg 2003.
Lukács, G., »Geschichte und Klassenbewußtsein«. Neuwied 1968.
Marcuse, H., »Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft«. Neuwied und Berlin 1967.
Schirrmacher, F. (Hg.), »Die Darwin AG. Wie Nanotechnologie, Biotechnologie und Computer den neuen Menschen träumen«. Köln 2001.
Seppmann, Werner, Was heißt heute ›herrschendes Denken‹? In: C. Jünke (Hg.), »Am Beispiel Leo Koflers. Marxismus im 20. Jahrhundert«. Münster 2001, 165-181.
* In der Juni-Ausgabe von Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung (Heft Nr. 62), die dieser Tage ausgeliefert wird, erscheint ein umfangreicher Aufsatz von Thomas Metscher, bis zu seiner Emeritierung 1998 Professor für Literaturwissenschaft und Ästhetik an der Universität Bremen, zur Postmoderne als Krisenideologie; wir veröffentlichen vorab in zwei Teilen Auszüge aus dem Text (die Mehrzahl der Literaturhinweise mußte hier aus Platzgründen entfallen). Das Heft kann gegen 9,50 Euro zzgl. Versandkosten unter redaktion@zme-net.de bestellt werden.
[Nach: Junge Welt, 02./03.06.2005]