Hingen wir dem Habermas’schen Diktum vom Erschöpfen der utopischen Energien der Moderne an, wären wir keine KommunistInnen. Trotzdem kann Folgendes festgestellt werden: Gesellschaftliche Grundsatzdebatten weisen in den letzten Jahrzehnten die Tendenz auf, nicht mehr um eine mögliche (und notwendige!) neue Ausrichtung der sozioökonomischen Prämissen geführt zu werden, sondern um den Umgang mit DER Vergangenheit. Dass es eigentlich unumgänglich wäre beides (sowohl das Woher kommen wir? als auch das Wohin müssen wir gehen?) zu diskutieren, muss hier nicht weiter ausgeführt werden. Dass uns die bürgerlichen Medien, Ausbildungsinstitutionen etc. (kurz: der gesamte hegemoniale Block) vormachen wollen, dass die Welt in der wir leben die beste aller möglichen ist, hat seine systemische Logik, trägt aber zum Glück nicht bei allen Früchte. Wenn wir aber von der These ausgehen, dass die herrschende Klasse alles daran setzt, das Nachdenken über eine bessere Zukunft zu vereiteln, liegt es auf der Hand, dass auch das Erinnern an vergangene, prägende Ereignisse ein Feld für von uns auszutragende Kämpfe darstellt.
Gedenken – aber wessen?
Schließlich ist Gedächtnis konstitutiv für Gesellschaften. Zugegeben: Die „Magie der runden Zahl“ mutet seltsam an. Sollte man sich an 1938 nicht auch 2006 und 2007 erinnern? Und auch 2010? Scheinbar braucht es aber diesen psychologischen Trick, um die Initiation von neuen Generationen und die eventuelle Neuorientierung von bereits „angelernten“ BürgerInnen zu bewerkstelligen. Schon Jan Assmann benannte Ritus und Fest als primäre Organisationsformen des kulturellen Gedächtnisses. Und daran ist eigentlich auch nichts verkehrt – es kommt eben nur darauf an, wie man gedenkt und wessen man gedenkt.
Erinnern wir uns doch etwa an 2004 zurück. Bei 2004 handelt es sich um ein für die Autorin um ein persönlich ziemlich wichtiges Jahr, um das Maturajahr, mit anschließender Maturareise usw. usf. Alles in allem ziemlich prägend also. Allerdings hätte man in diesem Jahr – theoretisch – auch des 70. Jahrestages der Februarerhebungen der österreichischen ArbeiterInnenschaft gegen den Austrofaschismus erinnern können. Bis auf die üblichen Verdächtigen haben das aber eher wenige getan – wie denn auch, war doch Dollfuß das „erste österreichische Blutopfer im Kampf gegen den Nationalsozialimus“ .
EinE SchelmIn, wer denkt, dass Vergangenheit vergangen sei. Deswegen gilt auch: Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen.
Merke: 2008 ist nicht gleich 2005
Ein weiteres österreichisches, Beispiel. Nehmen wir das Jahr 1938, bei welchem es sich um eines der einschneidensten Jahre der österreichischen Geschichte handelt. Dass 1938 nicht unbedingt ein Jahr ist, welches sich besonders gut eignet, um das kollektive Gedächtnis der ÖsterreicherInnen zu formen, ist klar. Sollte die SP dessen gedenken, dass ihre Parteigranden den Anschluss schon vor 1938 ausdrücklich befürworteten? Sollte die ÖVP dessen gedenken, dass Schuschnigg dem österreichischen Bundesheer befohlen hat, in den Kasernen zu bleiben, um das Vergießen des Blutes der „deutschen Brüder“ zu vermeiden? (Zudem hat die ÖVP ja auch nichts mit dem christlich-sozialen Austrofaschismus am Hut …) Noch schwieriger wird es mit der These von Österreich als erstem Opfer: Mittlerweile hat sich ja doch landläufig die Erkenntnis durchgesetzt, dass sich diese Behauptung so in ihrer ganzen Pracht nicht halten lässt. Das Verabschieden von dieser These hat noch dazu einen großen Vorteil, der auf der Hand liegt: Man muss nicht mehr über den leidigen, größtenteils kommunistischen Widerstand reden! Andererseits: Handelt es sich dann um TäterInnennation (Und die ermordeten JüdInnen? Waren die keine ÖsterreicherInnen? Ganz zu schweigen von oben erwähnten WiderstandskämpferInnen.) Oder MittäterInnennation? Schwierig …
Und warum kann 2008 nicht ein bisschen wie 2005 sein?
2005 gestaltete sich die Chose schon wesentlich einfacher: 1945 – 1955 – 1995 war das magische Mantra, welches fast alle skandierten, untermauert von kostspieligen, wenig interessanten Initiativen, die von der damaligen Bundesregierung gesponsert wurden. Wobei sich immerhin die FreundInnen schlechter Wortspiele an der Namensgebung („25 peaces“) erfreuen konnten. Was eigentlich von Anfang an klar war, bewahrheitete sich in einem solchen Ausmaß, dass einem/einer schlecht werden musste: Der Akzent bei den Gedenkveranstaltungen lag eindeutig auf dem Jahr 1955 (Ende der Besatzung, Abzug der Alliierten, endlich frei!). 1945 war irgendwie auch wichtig, eignete sich für Propagandazwecke nicht sonderlich gut. Gut, der Krieg war aus, allerdings: Was danach war, war ja eigentlich auch nicht fein, schließlich kamen die Russen! Besonders interessant in diesem Zusammenhang war jenes „25 peaces“-Projekt, durch welches den WienerInnen 2005 gezeigt wurde, wo die Zoneneinteilung verlief. Wie groß der Schock der Autorin dieser Zeilen war, als sie eines Morgens erwachte, und feststellen musste, dass sie sich in der sowjetischen Zone befand, kann man sich wohl vorstellen. Aber immerhin war da ja noch 1995, das glorreiche Jahr des Beitritts Österreichs zur Europäischen Union! 2005 war also gerettet.
1848 – 1917 – 1918 – 1968
Bei 2008 handelt es sich um ein Jahr, in welchem man vielerlei Jubiläen gedenken könnte, viele Kämpfe um Erinnerungsorte ausgefochten werden könnten. 1848, 1918 seien erwähnt. Dass 1968 noch am meisten Beachtung geschenkt wird, darf nicht verwundern, ist es doch höchstwahrscheinlich das Jahr, welches Österreich von all den Gedenkjahren, die aufgelistet wurden, am wenigsten betroffen hat. Im Gegensatz etwa zum in Österreich vergessenen 1917, welches sehr wohl direkte Auswirkungen auf Österreich, etwa einen noch nie da gewesenen politisch motivierten Generalstreik für Frieden der österreichischen ArbeiterInnen, mit sich brachte. Bei 1968 bewegt man sich allerdings auf weitaus weniger dünnen Eis: Ein wenig distanziert-interessiert-ablehnendes Gedenken hat noch niemandem wehgetan, stellen doch EU-Parlamentarier wie „Danny le rouge“ und Joschka Fischer keine besondere Gefahr dar. Auch die große „Uniferkelei“ kann wahrscheinlich nur noch bei Ellmayer-Eleven ein Stirnrunzeln hervorrufen.
In diesem Sinne endet dieser Text wie er begonnen hat (der Titel stammt von Thornton Wilder), nämlich mit einem Zitat Walter Benjamins: „Der historische Materialist […] betrachtet es als seine Aufgabe, die Geschichte gegen den Strich zu bürsten“. Holen wir also alle unsere Bürsten hervor!