Von Michael Wögerer, der Politikwissenschaft in Wien studiert.

Als es am Ende des Ersten Weltkriegs auch zum Ende des Habsburger-Reichs gekommen war, war es über alle Parteigrenzen hinweg allgemeine Meinung, dass sich das deutschsprachige Rest-Österreich der 1918 neu gegründeten Deutschen Republik anschließen solle.

Besonders die Sozialdemokratie hielt die Theorie von der Lebensunfähigkeit des kleinen Österreichs – trotz gegenteiliger Beweise  – bis zur Gründung der Zweiten Republik (sic!) aufrecht. Mit dem Vorwand, nach einer „gesamtdeutschen“ sozialistischen Revolution zu trachten, nutzte man die Position für den Anschluss auch als „willkommenes Alibi für eine antisozialistische Politik“ . In und für Österreich machte es gemäß der als AustromarxistInnen bezeichneten SozialdemokratInnen eben keinen Sinn, in Österreich den Sozialismus aufzubauen. So lautet es dementsprechend im „Linzer Programm“ der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) von 1926: „Die Sozialdemokratie betrachtet den Anschluss Deutschösterreichs an das Deutsche Reich als notwendigen Abschluss der nationalen Revolution von 1918.“

Dass sich die SDAP damit auf dem völlig falschen Dampfer befand, erklärte ihr der erst drei Jahre alte Bruder. Die im November 1918 gegründete Kommunistische Partei (KPÖ) fasste bereits 1921 eindeutige Beschlüsse gegen die Anschlusspropaganda. Erst später konnte Alfred Klahr diese Position auch theoretisch untermauern, indem er noch vor dem Einmarsch der Nationalsozialisten im April 1937 schrieb: „Die Österreicher haben auf der Grundlage der jahrzehntelangen staatlichen Selbständigkeit eine eigene nationale, von der deutschen Nation verschiedene Entwicklung durchgemacht. Ihr Kampf um die Aufrechterhaltung der staatlichen Selbständigkeit bedeutete den Kampf um die Erhaltung der Grundlage der selbständigen nationalen Entwicklung, um die Erhaltung der nationalen Unabhängigkeit Österreichs. Er ist ein nationaler Kampf, ein Kampf für die nationale Selbstbestimmung des österreichischen Volkes.“

In Anlehnung an die Großdeutschlandlosung der deutschen Revolution von 1848 setzte die Sozialdemokratie jedoch ihre Anschlusspropaganda fort. Karl Renner, zu dem es weiter unten noch mehr zu erzählen gibt, sprach davon, dass „Wir“ – gemeint waren natürlich Deutsche und Österreicher – „ein Stamm und eine Schicksalsgemeinschaft“  sind. Der scheinbar linke Friedrich Adler nahm zwar die Kritik am deutschen Imperialismus auf, blieb jedoch bei seinem großdeutschen Nationalismus, indem er sagte: „Nicht alldeutsch, das heißt: so weit der deutsche Säbel reicht, sondern großdeutsch, das heißt: so weit die deutsche Zunge klingt.“  – An dieser Stelle muss dem Leser/der Leserin ausdrücklich klar gemacht werden, dass es sich hier nicht um Vordenker der heutigen FPÖ handelt, sondern um „stramme“ Sozialdemokraten.

Die Auswirkungen der deutschnationalen Position der SDAP skizzierte Arnold Reisberg wie folgt: „Die Anschlusspropaganda der Sozialdemokratie wirkte nicht nur der Weiterführung der Revolution zur sozialistischen entgegen, sie hatte auch eine unheilvolle Wirkung während des ganzen Bestehens der Ersten Republik. Sie hemmte im österreichischen Volk das sich entwickelnde Bewusstsein der eigenen nationalen Existenz, sie machte es in den Zeiten der Weltwirtschaftskrise für die nationalistische Demagogie des Nazismus empfänglicher und trug letzten Endes Mitschuld am Verlust der österreichischen Unabhängigkeit.“

Somit bereiteten der seit 1934 bestehende austrofaschistische „Ständestaat“ und die unsägliche Position der Sozialdemokratie jenen Boden auf, den Hitler und seine Gefolgsleute „heim ins Reich“ führen wollten. Zwar hatte die SDAP nach der Machtübernahme Hitlers in Deutschland den Anschlussparagrafen aus ihrem Parteiprogramm gestrichen, ihre großdeutsche Position aber nicht aufgegeben. So schrieb die Arbeiterzeitung 1933: „Wir fühlen uns verbunden mit der großen deutschen Arbeiterklasse. Darum bleibt auch in diesen Tagen der schlimmsten Erniedrigung des deutschen Volkes der Anschluß an das freie Deutschland von morgen unser Ziel.“

Die KommunistInnen traten vehement gegen die deutschnationale Propaganda auf und versuchten mittels einer Volksfrontstrategie den „Anschluss“ an Hitler-Deutschland zu verhindern. Die „Rote Fahne“ schrieb Mitte Februar 1937: „Schluss mit dem Gerede vom zweiten deutschen Staat. Wir sind Österreicher und wollen ein staatlich und national selbständiges, unabhängiges und freies Österreich… Arbeiter, Angestellte, Bauern, Gewerbetreibende, Katholiken, österreichisches Volk. Hört in einer für Euer und Österreichs Schicksal entscheidenden Stunde den Ruf zur gemeinsamen Erkämpfung der Freiheitsrechte des Volkes, dem einzigen wirklichen wirksamen Gegengewicht gegenüber allen Anschlägen gegen unser Land! “

Anfangs lehnte es die Führung der aus der alten SDAP hervorgegangenen „Revolutionären Sozialisten“ (RS) entschieden ab, an einem Volksfrontbündnis mit KommunistInnen und Bürgerlichen gegen Hitler teilzunehmen. Auf Druck ihrer Basis propagierten sie schließlich doch immerhin gemeinsam mit den KommunistInnen bezüglich der am 13. März 1938 von Schuschnigg geplanten Volksabstimmung ein „Ja“ zur österreichischen Unabhängigkeit, natürlich ohne dabei in irgendeiner Weise dem austrofaschistischen Regime zuzustimmen.

Als es am 12. März zur widerstandslosen Okkupation Österreichs durch deutsche Truppen kam , waren es wiederum Vordenker der Sozialdemokratie, die ihre deutschnationale Position offen zur Schau stellten. Besonders unrühmlich tat sich Karl Renner hervor, der sich den neuen Machthabern freiwillig für ihre Interessen zur Verfügung stellte. Er schlug sogar dem Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß eine Plakataktion zur „Ja“-Werbung bei der – von den Nationalsozialisten kontrollierten – Volksabstimmung über den „Anschluss“ am 10. April 1938 vor. Man einigte sich schließlich auf ein wohlwollendes Interview im „Neuen Wiener Tagblatt“.

Dort verstieg sich der ehemalige sozialdemokratische Staatskanzler zu folgenden Aussagen: „Ich müsste meine ganze Vergangenheit als theoretischer Vorkämpfer des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen wie als deutschösterreichischer Staatsmann verleugnen, wenn ich die große geschichtliche Tat des Wiederzusammenschlusses der deutschen Nation nicht freudigen Herzens begrüßte. […] Nun ist diese zwanzigjährige Irrfahrt des österreichischen Volkes beendet, es kehrt geschlossen zum Ausgangspunkt, zu seiner feierlichen Willenserklärung vom 12. November zurück. Das traurige Zwischenspiel des halben Jahrhunderts, 1866 und 1918, geht hiermit in unsrer tausendjährigen gemeinsamen Geschichte unter. […] Als Sozialdemokrat und somit als Verfechter des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen, als erster Kanzler der Republik Deutschösterreich und als gewesener Präsident ihrer Friedensdelegation zu St. Germain werde ich mit Ja stimmen.“ – Die Nazis dankten dem „großen Sozialdemokraten“ seine klare Haltung:  Bis 1945 wurde er lediglich mit Hausarrest in Gloggnitz belegt.

Otto Bauer und die RS lehnten 1938 den „Anschluss“ an Nazi-Deutschland ab, erklärten jedoch, dass dieser – trotz Hitler – „ein geschichtlicher Fortschritt“  sei und dass die „deutsch-österreichische Arbeiterklasse … nur noch frei werden [kann], wenn die ganze deutsche Arbeiterklasse frei wird.“

Arnold Reisberg stellt in seinem Werk „Februar 1934 – Hintergründe und Folgen“ für uns zusammenfassend mehr als treffend fest: „Die eindeutige Schuld an der Zerstörung der ersten Republik haben jene, die im Februar 34 mit der Errichtung der faschistischen Diktatur die treuesten Verteidiger der Unabhängigkeit und Selbständigkeit Österreichs niedergeworfen hatten. […] Aber weder die Februartragödie noch der Fall Österreichs wären ohne Mitschuld des Austromarxismus, der in Wirklichkeit nur ein Austroreformismus war, möglich gewesen.“