Wie auch die französische Revolution von 1789 läutete die Große Sozialistische Oktoberrevolution eine neue Epoche der Menschheitsgeschichte ein. Der 90. Jahrestag am 7. November [1] 2007 gibt Anlass zu Reflexion und Rückschau aber auch zu perspektivischer Betrachtung eines Auswegs aus den himmelschreienden Ungerechtigkeiten des sich unbezwingbar wähnenden Kapitalismus.
Die Epoche des Imperialismus
Um die Wende des 19. zum 20. Jahrhunderts trat der Kapitalismus der freien Konkurrenz auf eine neue Stufe seiner Entwicklung, den Imperialismus.[2] Die Produktion konzentrierte sich immer stärker in den Händen Weniger, die zueinander in erbitterter Konkurrenz um Absatzmärkte und Rohstoffquellen standen. An die Stelle von hunderten oder tausenden Klein- und Mittelbetrieben traten immer weniger große Firmen, die die kleineren in ihre Abhängigkeit brachten oder sie ruinierten. Um sich größtmögliche Profite zu sichern, schlossen sich die wenigen verbliebenen Großkapitale zu Kartellen und Konzernen zusammen. Durch die so entstandenen Monopole [3] wurde die Konkurrenz untereinander keineswegs beseitigt, sie wurde im Gegenteil viel erbitterter.
Wenige imperialistische Großmächte hatten um die Jahrhundertwende die Welt unter sich aufgeteilt, wobei England das größte Stück des Kuchens zugefallen war. Hinzu kam, dass die Entwicklung der einzelnen kapitalistischen Staaten ungleichmäßig von Statten ging und sich deshalb die Kräfteverhältnisse ständig veränderten. So fiel das früher so mächtige England bald hinter die Vereinigten Staaten und Deutschland zurück.
Die drei wesentlichen Widersprüche des Imperialismus sind also der zwischen Kapital und Arbeit, also das kapitalistische Prinzip von gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung des Produktes, der zwischen den sich ungleich entwickelnden Ländern und der zwischen den Kolonien und abhängigen Ländern auf der einen und den imperialistischen Staaten auf der anderen Seite. Diese Widersprüche verdichten sich so weit, dass sie antagonistisch werden und so eine Epoche von Kriegen auf der einen und von sozialen bzw. antikolonialen Revolutionen auf der anderen Seite beginnt.
Internationalismus oder Handlangerdienste für die Kriegstreiber?
Die sozialdemokratischen Parteien, die in der II. Internationale zusammengeschlossen waren, beschäftigen sich seit 1900 in einer Reihe von Kongressen mit den Problemen des Militarismus und des Krieges. Am Stuttgarter Kongress 1907 verabschiedete die – damals noch revolutionäre – II. Internationale eine in ihren entscheidenden Punkten von W.I.Lenin und Rosa Luxemburg vorgeschlagene Resolution, die die Richtlinien des Kampfes gegen den imperialistischen Krieg festlegte. (siehe Kasten) Der Baseler Kongress von 1912 bekräftige die Linie der internationalen Sozialdemokratie, den Krieg mit allen zu Verfügung stehenden Mitteln zu verhindern.[4]
Doch es bildeten sich „schon vor Beginn des ersten Weltkrieges immer deutlicher drei Strömungen heraus: die Sozialchauvinisten, die offen und unverhüllt die imperialistischen Kriegsvorbereitungen verteidigten und begrüßten, die Zentristen, die nach außen hin zwischen Rechten und Linken standen, in der Praxis jedoch versuchten, hinter scheinrevolutionären und pazifistischen Phrasen die Politik der rechten Opportunisten zu rechtfertigen, und schließlich die Linken, die dem Marxismus treu geblieben waren und an deren Spitze die [russischen] Bolschewiki standen.“ [5]
„Die Kapitalisten wollen keinen Krieg, sie müssen ihn wollen“ (Bertolt Brecht)
Im Sommer 1914 brach der erste Weltkrieg aus. In ihm standen sich zwei Gruppen imperialistischer Staaten gegenüber: auf der einen Seite die Achsenmächte mit Deutschland an der Spitze und Österreich-Ungarn, der Türkei und anderen Länden als Bündnispartnern, und auf der anderen bildeten England, Frankreich und Russland die Entente, der sich 1915 Italien und 1917 die USA anschlossen. Für die Sozialdemokratien war er die „historische Bewährungsprobe“[6]. Fast alle sozialdemokratischen Parteien traten die Beschlüsse der Kongresse in Stuttgart und Basel, die sie selbst noch euphorisch mit beschlossen hatten, mit Füßen. Nur die russischen Bolschewiki lehnten den Krieg von Anfang an ab. Die II. Internationale war zusammengebrochen, und ihre Nachfolgerin, die „Sozialistische Arbeiterinternationale“ wurde erst 1923 wieder gegründet. In Deutschland stimmte nur der damalige sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete und spätere KPD-Gründer Karl Liebknecht gegen die Bewilligung der Kriegskredite. In Österreich kam die Sozialdemokratie nicht in die Verlegenheit, für die Kriegskredite zu stimmen, da das Parlament schon vor Ausbruch des Krieges aufgelöst wurde.
„Der erste Weltkrieg hatte alle Gegensätze, die im Habsburgerreich seit langem bestanden, extrem verschärft. Die Massen litten im dritten Kriegsjahr an katastrophalem Lebensmittelmangel, Teuerung und Desorganisation der Versorgung sowie an der Knebelung ihrer Rechte, die sich in der Beseitigung des Parlaments, der Unterstellung kriegswichtiger Betriebe unter militärisches Kommando und Ausdehnung der Militärgerichtsbarkeit auf alle politischen Delikte äußerte. Die nationalen und sozialen Spannungen spitzten sich im berüchtigten Hungerwinter 1916/17 immer mehr zu.“ [7]
Ein neues Kapitel der Weltgeschichte beginnt
Schon im Februar wurde der Zar gestürzt und eine provisorische Regierung unter Alexander Kerenski etabliert, die versprach, die russische Beteiligung am Krieg zu beenden, aber Außenminister Miljukov erklärte den Verbündeten in einer Note, „das ganze Volk sei bestrebt, den Weltkrieg bis zum entscheidenden Sieg weiterzuführen, und die Provisorische Regierung beabsichtige, die unseren Verbündeten gegenüber übernommenen Verpflichtungen in vollem Umfange einzuhalten.“[8] Im Mai musste Minister Miljukov aufgrund des Drucks der Massen zurücktreten.
Die Leiden und Entbehrungen des Krieges führten zu einem radikalen Umdenken der russischen in der russischen Gesellschaft, die Menschen begannen zu verstehen, dass ein Ende des Krieges mit dem Ende des Kapitalismus untrennbar verknüpft war. Die Losung der Bolschewiki „Alle Macht den Sowjets“ brachte dieses Streben nach Land, Brot und Frieden auf den Punkt. Am 7. November 1917 begann die Oktoberrevolution. Sie „[…] begründet einen neuen Staatstypus, den sozialistischen Sowjetstaat, hebt das Eigentum der Gutsbesitzer an Grund und Boden auf und übergibt den Boden der Bauernschaft zur Nutzung […], expropriiert die Kapitalisten, erkämpft den Ausweg aus dem Krieg, den Frieden, gewinnt die notwendige Atempause und schafft auf diese Weise die Voraussetzungen zur Entfaltung des sozialistischen Aufbaus.“ [9]
Die revolutionären Ereignisse übten auch auf die anderen Krieg führenden Mächte im Allgemeinen und Österreich im Besonderen eine bedeutende Wirkung aus. „Die größte Wirkung auf die Österreichischen ArbeiterInnen erzielte jedoch die Oktoberrevolution im Jahr 1917. Besonders das Dekret über den Frieden, das Lenin formulierte, fand breite Zustimmung in der kriegsmüden Bevölkerung der Westmächte. Bereits am 1. 11. 1917 fand deshalb in Wien eine große Friedenskundgebung statt.“ [10]
„Die russische Revolution hat das Signal einer besseren Zukunft gegeben“ [11]
Soziale Errungenschaften als Nebeneffekt des real existierenden Sozialismus
Als der Sozialismus nach dem Ende des zweiten Weltkrieges durch die Gründung der Volksdemokratien in Osteuropa, der VR China etc. einen massiven Aufschwung erlebte und sein Ansehen weltweit auf dem Höhepunkt war, reichten antikommunistische Hetze und Repression nicht mehr aus, um das politische System der westlichen Länder stabil zu halten. Der Kapitalismus hatte nach den Gräueln des zweiten Weltkrieges seine Akzeptanz bei den Menschen verloren. Trotz des KPD-Verbots und der Berufsverbote in Deutschland, der McCarthy-Ära in den USA, den Repressionen rund um den Oktoberstreik 1950 in Österreich, waren die Herrschenden zu Zugeständnissen gezwungen.
In den USA passierte dies über das Universitätswesen: „In einem radikal antikommunistischen und antisozialistischen Klima war die Universität der ideale Bereich, um die notwendigen Formen sozialer Investition zu verstecken und zu ‚amerikanisieren’.“[12] In Österreich waren eine starke und kampfbereite Arbeiterschaft und die bloße Existenz des sozialistischen Lagers, Vorraussetzung für den Aufbau der verstaatlichten Industrie. [13]
Der real existierende Sozialismus begünstigte trotz Fehlentwicklungen bis zu seinem Ende die sozialen Errungenschaften im „Westen“.
„Sozialismus oder Barbarei!“ (Rosa Luxemburg)
90 Jahre nach der Oktoberrevolution und 16 nach der Implosion des osteuropäischen Sozialismus sieht sich die Menschheit – durchaus vergleichbar mit der Situation um 1900 – mit einem System stetig zunehmender Widersprüche konfrontiert. „Der Widerspruch zwischen der Entfaltung der Produktivkräfte und Unterwerfung unter die bornierten Verhältnisse der Kapitalverwertung ist allgegenwärtig.“ [14] Obwohl der Reichtum, der tagtäglich gesellschaftlich geschaffen wird, ständig wächst, schrumpfen die finanziellen Zuwendungen für Schulen und Universitäten, sinken die Sozialleistungen und Löhne und nehmen Armut sowie Arbeits- und somit Perspektivenlosigkeit zu.
„Geschichtlich abgetreten ist mit der historischen Zäsur 1989/90 nämlich nicht allein das sowjetische Sozialismusmodell. Zusammengebrochen ist zugleich in den alten Zentren das von einem großen gesellschaftlichen Kompromiss zwischen Kapital und Arbeit gezügelte und kontrollierte kapitalistische Modell.“ [15]
Mit dem Wegfall der Systemalternative erfuhr auch der Clausewitz-Gedanke, dass der Krieg, die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist, eine Renaissance. Österreich ist heute Teil eines imperialistischen Zweckbündnisses, mit Namen EU, das sich nach innen – dem ganzen geheuchelten Gerede von Sozialcharta zum Trotz – aller Beschränkungen für das Kapital entledigt. Nach außen ist die EU auf dem Weg, sich zu einem Militärbündnis zu entwickeln, das eigenständig – also ohne den langjährigen Weggefährten USA – in aller Welt militärisch operieren können soll, um neokoloniale Bestrebungen zur Sicherung von Märkten und Einflusssphären zu sichern. [16] In dieser Hinsicht waren es wahre Worte, die der Klubobmann der steirischen ÖVP, Christopher Drexler, in Bezug auf die Neutralität Österreichs fand. Sie ist spätestens seit dem Beitritt zur EU 1995 entsorgt.
Neben der „NATO-Partnerschaft für den Frieden“ beteiligt sich Österreich an den „Battle Groups“, den schnell verfügbaren Eingreiftruppen der EU, die – das hat Außenministerin Plassnik schon verlautbart –, sogar ohne Mandat der UNO in den Krieg ziehen können. „Sicherheitspolitische Eigenverantwortung der EU“ nennt sich das dann im militaristischen Neusprech.
Der Kommunismus als „integraler Humanismus“ (Antonio Gramsci)
Die Oktoberrevolution war radikal – und: „Radikal sein ist die Sache an der Wurzel fassen“ [17] –, und sie trug „dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“[18] , Rechnung. In der Praxis wurde der Beweis der Richtigkeit der marxistischen Theorie angetreten, die W.I.Lenin in den neuen Verhältnissen der Epoche des Imperialismus weiterentwickelt und sie auf eine neue Stufe gehoben hat. In seinem Werk „Was tun?“[19] begründete Lenin das Konzept der revolutionären Avantgardepartei, dessen Richtigkeit sich in vielen Revolutionen erwiesen hat, denn: „Einem funktional auf Repression ausgerichteten Apparat stünde eine amorphe Masse hilflos gegenüber, wenn sie nicht eine eigene Kampfordnung bilden würde. Die Organisiertheit ist Vorraussetzung, dass der Protest zu Klassenkampf, dass die Rebellion zur Revolution werden kann.“ [21]
Die Analogien gesellschaftlicher Widersprüche – heute und vor 90 Jahren – lassen sich ebenso wenig bestreiten wie die Tatsache, dass sie dem Kapitalismus inhärent sind. Der Kommunismus als „die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt“ hat also nicht nur nichts an Aktualität verloren, sondern im Gegenteil seine historische Notwendigkeit, seine humanistische Unabdingbarkeit unter Beweis gestellt und tut dies jeden Tag aufs Neue.
Der Rote Oktober legte auf einem Sechstel der Erde den Grundstein für eine andere, eine bessere Gesellschaftsordnung. Er bewies die Möglichkeit eines Auswegs aus Ausbeutung und Unterdrückung.
„In der Geschichte, die als eine Geschichte von Klassenkämpfen abläuft, ist die Partei jener Klasse, die die bestehenden Herrschaftsverhältnisse in emanzipatorischer Absicht bekämpft, die Trägerin des historischen Fortschritts; sie ersetzt Unfreiheit durch größere Freiheit – und selbst wenn sie unterliegt, sind die von ihr in die Welt gesetzten Gedanken doch zumindest ein ‚Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit’, weil diese Gedanken, einmal geäußert und niedergelegt, nicht verloren gehen und in späteren Zeiten weiterwirken.“ [22]
Hanno Wisiak studiert Geschichte an der Uni Graz und ist KSV-Mandatar in der Bundesvertretung der Studierenden.