Unter marxistisch orientierten Linken bekommt die Frage nach den theoretischen Grundlagen ihres Selbstverständnisses aktuell eine wachsende Bedeutung. Dabei geraten zwei marxistische Persönlichkeiten zunehmend in den Fokus; es sind die deutsche Kommunistin Rosa Luxemburg und der italienische Kommunist Antonio Gramsci. Teil I des Artikels beschäftigte sich mit der Aktualisierung der Rosa-Luxemburg-Legende.

(siehe auch Teil I: Die Luxemburg-Legende)

Ein vergleichbares Schicksal wie Rosa Luxemburg erlitt post mortem der italienische Kommunist Antonio Gramsci. Auch im Umgang mit seinem theoretischen Erbe wurde und wird bis heute versucht, ihn zu einem marxistischen Klassiker zu überhöhen, der Marx mindestens gleichrangig sei und zugleich damit einen Beitrag zu leisten, Lenin aus dem Marxismus zu eliminieren und den Marxismus insgesamt im Kapitalinteresse zu »demokratisieren«.

Gramsci als geborener »Anti-Lenin« und Inspirator des »Eurokommunismus« und Rosa Luxemburg als »Mutter der Perestroika« – das waren vor 25 bis 35 Jahren die Denkfiguren dieser Variante eines «liberalisierten« und »demokratisierten« Marxismus. So jedenfalls sahen es in den 70er und 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts die um die Zeitschrift Das Argument sich scharenden Vertreter eines »pluralen« oder »westlichen« Marxismus. An die Stelle des Begriffs »Marxismus-Leninismus« hätte dann eigentlich ein »Marxismus-Gramscianismus« treten müssen; noch besser – allerdings noch schwieriger auszusprechen – wäre »Marxismus-Gramscianismus-Luxemburgismus« gewesen. Statt dessen wurde das eleganter klingende Konstrukt der »Linie Luxemburg-Gramsci«1 gewählt.2

Weshalb nun auf einem bereits »abgegrasten Feld« noch einmal nachgraben? Ist nicht alles gesagt, was Marxisten dazu zu sagen hätten? Es geht im folgenden nicht um das Wiederholen des bereits richtig Geschriebenen und Gesagten, sondern zum einen um eine Verteidigung des Kommunisten Gramsci vor neuen Fehldeutungen und zweitens um seine korrekte historische Einordnung gegenüber den Klassikern des Marxismus, Marx, Engels und Lenin.

Zum Klassiker befördert

Die »Beförderung« Gramscis zu einem mit Marx, Engels, Lenin gleichrangigen vierten oder fünften »Klassiker« des Marxismus erfolgte kurz nach der Umwandlung der marxistisch-leninistischen SED zu einer neuen Partei linkssozialdemokratischen Typs namens PDS. Auf einer internen Klausurtagung des neuen PDS-Vorstandes im Mai 1990 definierte der damalige Parteivorsitzende Gregor Gysi den Bruch mit dem bisherigen Parteiverständnis und dessen ideologischen Grundlagen. Die PDS solle sich sowohl auf marxistische, bürgerlich-liberale, christliche wie auch konservative Grundlagen berufen. Marx und Engels seien kein Problem, die könnten dazu gehören. Bei Lenin sei das etwas anderes. Neu hinzukommen müßten statt dessen die Erkenntnisse und wichtigsten Gedanken auch des demokratischen Sozialismus.

In diesem Zusammenhang vereinnahmte die PDS sowohl Rosa Luxemburg wie auch Antonio Gramsci zur Neudefinition einer weltanschaulich pluralistischen linken Partei.

In der damals publizierten Bildungsserie der Partei, »controvers«, erschienen zwecks politischer Rehabilitierung von bislang »falsch« verstandenen oder gar nicht beachteten Marxisten – u.a. Karl Kautsky und Paul Levi – auch Arbeiten zu Antonio Gramsci und seinem politischen Zeit- und Weggenossen, dem Komintern–Spitzenfunktionär und späteren Vorsitzenden der italienischen Kommunisten Palmiro Togliatti.

Gramsci wurde als genialer Fortsetzer und Erneuerer des Erbes von Marx und Engels eingestuft, dem es nicht vergönnt gewesen sei, die ihm eigentlich zustehende Rolle eines neuen, aber »demokratischeren« Lenin einzunehmen, weil er von 1926 bis fast zu seinem Lebensende 1937 in der Haft der italienischen Faschisten verbringen mußte.

Rund 20 Jahre nach dieser »Entdeckung« durch die PDS wurde Gramsci durch die »Thesen des Sekretariats« auch für die DKP als mit Marx, Engels, Lenin und Rosa Luxemburg gleichwertiger »Klassiker« des Marxismus »entdeckt«. Gekoppelt wurde diese »Beförderung« mit einer Kritik am angeblichen Versagen des »orthodoxen Marxismus-Leninismus«, der sich von »neuen Fragen« systematisch abgeschottet hätte. Das ist eine uralte These; neu ist, daß sie nun auch von Teilen der bis in die jüngste Gegenwart als »orthodox« eingestuften DKP bzw. Teilen ihrer Führung selbst stammt.

Dabei sprechen die historischen Fakten doch eindeutig eine ganz andere Sprache.

Der junge Sozialist Gramsci, der sich unter dem Eindruck der russischen Oktoberrevolution der Leninschen Strategie der Revolution und des Aufbaus der neuen sozialistischen Sowjetordnung stark angenähert hatte, gewann durch die Gründung der Kommunistischen Internationale und die programmatischen Orientierungen ihres I. und II. Kongresses (1919 bzw. 1920) einen zusätzlichen wichtigen theoretischen Erkenntnisschub.

Der linke Flügel der italienischen Sozialisten rang zu dieser Zeit heftig um die Abgrenzung vom Reformismus und die eigenständige Organisierung als Kommunisten. Die Loslösung der bisherigen kommunistischen Fraktion innerhalb der Sozialistischen Partei und die Gründung der Italienischen Kommunistischen Partei (IKP) erfolgte relativ spät im Januar 1921 auf dem Parteitag von Livorno.

In einem Grundsatzartikel unmittelbar vor diesem entscheidenden Parteitag begründete Gramsci die Notwendigkeit der Trennung der Kommunisten von den Reformisten ausdrücklich mit einem direkten Bezug zum II. Komintern-Kongreß im Juli 1920: «Die Trennung, die in Livorno zwischen Kommunisten und Reformisten erfolgen wird, wird besonders folgende Bedeutung haben. Die revolutionäre Arbeiterbewegung trennt sich von jenen degenerierten Strömungen des Sozialismus, die im staatlichen Parasitentum verfault sind (…).« (A. Gramsci: Zu Politik, Geschichte und Kultur, Frankfurt/Main 1986, S.84)

Gramsci verwies direkt auf die enge Verbindung der italienischen Kommunisten zur Kommunistischen Internationale und die Bedeutung der Beschlüsse des II. Kongresses: »Es existiert schon ein Keim der Weltarbeiterregierung. Es handelt sich um das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale, das aus dem II. Kongreß hervorgegangen ist. Die Vorhut der italienischen Arbeiterklasse, die kommunistische Fraktion der Sozialistischen Partei, wird in Livorno die Disziplin und Treue zur ersten Weltregierung der Arbeiterklasse als notwendig und unabdingbar erklären: Mehr noch, sie wird diesen Punkt zum zentralen Punkt der Diskussion auf dem Kongreß machen.« (ebenda, S.85)

Im Jahr 1922 war Gramsci Vertreter der IKP bei der Exekutive der Kommunistischen Internationale. Er folgte eindeutig der politischen Linie Lenins und der Bolschewiki. Nach Lenins zu frühem Tod im Januar 1924 nahm Gramsci zu den sich entwickelnden Debatten und Auseinandersetzungen in der Führung der russischen bzw. sowjetischen KP eine klassisch »leninistische« Position ein.

In einer Rede vor dem ZK seiner Partei vom Mai 1925 betonte er als das Wesen der damaligen Lage in der Kommunistischen Internationale, daß sich in jeder ihrer Mitgliedsparteien »ein Grundkern herausgebildet und gefestigt hat, der eine leninistische Stabilisierung der ideologischen Zusammensetzung der Parteien bestimmt und sichert, so daß sie nicht mehr durch Krisen und allzu tiefe und weitreichende Schwankungen erschüttert werden«. (A. Gramsci: Zu Politik, Geschichte und Kultur, Leipzig 1980, S.122).

Gramsci war ein klarer Vertreter der Linie der »Bolschewisierung« der Komintern-Parteien. Sein später in der Haft geschriebener Brief an die KPdSU, in dem er seine Besorgnis über die Fraktionierung innerhalb der russischen Partei ausdrückte, war trotz aller ausgedrückten Besorgnis keine Parteinahme gegen die damalige ZK-Mehrheit unter Stalin. Der Kurs auf Aufbau des Sozialismus in einem Land, die strategischen Entscheidungen zur raschen Industrialisierung des Landes fanden seine Zustimmung; er positionierte sich damit gegen die Linie Trotzkis und dessen Anhängerschaft.

Es ist daher vor dem Hintergrund der eigenen gegenwärtigen Anstrengungen zum Erhalt und Aufbau einer vom Reformismus und Revisionismus sich unterscheidenden autonomen KP in der BRD völlig unverständlich, Gramsci als eine Alternative zum Marxismus-Leninismus und dem Leninschen Parteityp zu interpretieren.

Theorie der Hegemonie

Eine besondere Rolle bei der Umdeutung Gramscis zu einer Art Anti-Lenin spielen seine in der Haft geschriebenen Überlegungen zur Erringung der politisch-kulturellen »Hegemonie« des Proletariats noch vor dem Sieg der sozialistischen Revolution und die Fokussierung der Strategie der Kommunisten auf die Bildung eines »historischen Blocks«.

Gramsci formulierte sein Hegemoniekonzept anfänglich zunächst ausgehend von Entwicklungen in der italienischen Geschichte, insbesondere des sogenannten Risorgimento, dem Kampf um die nationalstaatliche Vereinigung Italiens Mitte des 19. Jahrhunderts (unter der Führung Giuseppe Garibaldis). Den führenden bürgerlich-demokratischen Kräften, zumeist durch Intellektuelle des Nordens dominiert, fehlten der Wille und das Verständnis zu einem Bündnis mit der Masse der agrarisch geprägten Bevölkerung Süditaliens. Das eigentlich notwendige Bündnis, der »blocco storico« (»historischer Block«), zwischen dem sich industrialisierenden Norden und dem armen agrarischen Süden, kam nicht zustande und war auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht im Blickfeld der sich formierenden sozialistischen Bewegung mit ihren industriellen Zentren in Norditalien. Der größte Teil der Bevölkerung verharrte somit in Passivität, und wie bereits im 19. Jahrhundert kam es zum Kompromiß und gemeinsamen Vorgehen zwischen den Kapitalisten Norditaliens und den Großgrundbesitzern Süditaliens gegen die sozialistische Bewegung.

In diesem Zusammenhang und von der Spaltung zwischen Nord- und Süditalien ausgehend prägte Gramsci anfänglich sein eigenes Verständnis von strategischer Bündnis- und Hegemoniepolitik. Dabei wird sich in der Regel auf diese oder ähnliche erst spätere Formulierungen aus den Kerkerheften bezogen: »Die Vorherrschaft einer sozialen Gruppe offenbart sich auf zweierlei Weise, als ›Herrschaft‹ und als intellektuelle und moralische Führung. Eine soziale Gruppe ist herrschend gegenüber den gegnerischen Gruppen , die sie zu ›liquidieren‹ oder selbst mit Waffengewalt zu unterwerfen sucht. Sie ist führend gegenüber den ihr verwandten oder verbündeten Gruppen. Eine soziale Gruppe kann schon vor der Eroberung der Regierungsmacht führend auftreten, ja sie muß es sogar (dies gehört zu den Grundvoraussetzungen für die Eroberung der Macht). Später, wenn sie die Macht ausübt und sie sogar fest in der Hand hat, herrschend geworden ist, muß sie aber auch weiterhin ›führend‹ bleiben.« (zit. nach: A. Gramsci: Zu Politik, Geschichte und Kultur, S.277)

Diese 1934/35 – also nach langer Isolation und kurz vor seinem Tod 1937 – niedergeschriebenen Thesen werden häufig von »Gramscianern« so interpretiert, als sei die Orientierung auf die Erringung der »Hegemonie« eine völlig originäre und von Marx, Engels, Lenin nicht erkannte und erst von Gramsci entdeckte strategische Aufgabenstellung. Dies ist in doppeltem Sinne falsch und ahistorisch.

Erstens haben Fragen der Bündnispolitik weit vor der langen Haft bereits einen wichtigen Platz in den Überlegungen Gramscis eingenommen. Ohne die in der Haft notwendige und aufgezwungene »Sklavensprache« hatte er im Jahr vor seiner Inhaftierung in einer unvollendet gebliebenen Abhandlung mit dem Titel »Einige Gesichtspunkte der Frage des Südens« ausführlich untersucht und begründet, warum nur bei einem von der Arbeiterbewegung geführten Bündnis mit der armen Bauernschaft des Südens Fortschritte gemacht werden könnten. »Das Proletariat kann in dem Maße zur führenden und herrschenden Klasse werden, wie es ihm gelingt, ein System von Klassenbündnissen zu schaffen, das ihm gestattet, die Mehrheit der werktätigen Bevölkerung gegen den Kapitalismus und den bürgerlichen Staat zu mobilisieren; und das bedeutet in Italien, unter den real bestehenden Klassenverhältnissen, in dem Maße, wie es ihm gelingt, die Zustimmung der breiten, bäuerlichen Massen zu erlangen.« (A. Gramsci: a.a.O., S.191) Dies ist nichts anderes als die von den Bolschewiki unter Lenin schon lange praktizierte Bündnispolitik.

Zum zweiten spielte das angeblich originär von Gramsci entwickelte Hegemoniekonzept bereits lange in der russischen Arbeiterbewegung – auch schon vor Lenin – eine wichtige Rolle bei der Frage, welche Kräfte in der Lage sein würden, eine bürgerlich-demokratische, antifeudale Revolution in Rußland durchzuführen. Wie Perry Anderson in seinem Abriß zur Metamorphose des Begriffs »Hegemonie« in der russischen Arbeiterbewegung und auch später bei Gramsci richtig feststellt, hatte schon der »Vater des russischen Sozialismus«, Georgi Plechanow, seit 1883 diese für die Bündnispolitik gegenüber den bürgerlichen antizaristischen Parteien wichtige Thematik gründlich bearbeitet.

»Der Begriff gegemonija (russ. für Hegemonie) war vom Ausgang der neunziger Jahre des vorigen (19., d.Red.) Jahrhunderts bis 1917 eine der wichtigsten Parolen der russischen Sozialdemokratie.« (P. Anderson: Antonio Gramsci. Eine kritische Würdigung., Berlin 1979, S.20)

Diese Debatte wurde durch Lenins Arbeit »Was tun?« (1902) »mit völlig neuer Konsequenz und Eloquenz weiterentwickelt« (Anderson, a.a.O., S.22); und schließlich wurde 1903 auf dem II. Parteitag der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands (SDAPR) die Parole von der Hegemonie des Proletariats in der bürgerlichen Revolution zum gemeinsamen Konzept der russischen Marxisten.

»Als die einzig konsequent revolutionäre Klasse der modernen Gesellschaft muß das Proletariat der Führer sein, der Hegemon im Kampf des ganzen Volkes für die vollständige demokratische Umwälzung, im Kampf aller Werktätigen und Ausgebeuteten gegen die Unterdrücker und Ausbeuter. Das Proletariat ist nur insofern revolutionär, als es sich dieser Idee der Hegemonie bewußt ist und sie in die Tat umsetzt.« (W.I. Lenin: Der Reformismus in der russischen Sozialdemokratie, in: Werke Bd. 17, S. 219)

Der Verzicht auf diese Idee der Hegemonie sei die »gröbste Art von Reformismus in der russischen Sozialdemokratie« (a.a.O., S.220).

Eurokommunistische Verfälschung

Im Sinne der eurokommunistischen Umdeutungen des Marxismus-Leninismus in den 70er Jahren wurde dieses Hegemoniekonzept eine wesentliche Begründung für die Entwicklung der KP Spaniens zu einer reformistischen Formation unter dem damaligen Generalsekretär Santiago Carrillo. Ähnlich verlief die von Rechtsopportunisten betriebene Vereinnahmung und Umdeutung des Hegemoniekonzepts Gramscis durch den Mehrheitsflügel der KP Italiens unter Enrico Berlinguer und dessen Nachfolgern im Rahmen seines auf den Klassenkampf immer mehr verzichtenden Konzeptes des »historischen Kompromisses«.

Carrillo schrieb in seinem auch auf Deutsch erschienenen Grundsatzbeitrag »Eurokommunismus und Staat«, daß noch unter kapitalistischen Bedingungen mit einem »Kampf um die Kontrolle der ideologischen Apparate« eine solche kulturrevolutionäre Veränderung in Gang gesetzt und eine »Hegemonie auf dem Gebiet der Kultur« erreicht werden könne. Diese »Strategie des Bündnisses zwischen den Kräften der Arbeit und den Kräften der Kultur« würde schließlich einen »neuen historischen Block« entstehen lassen. In diesem »Block« sei die Arbeiterklasse zwar »weiterhin die wichtigste revolutionäre Klasse aber »doch nicht mehr die einzige; anderen Schichten, anderen gesellschaftlichen Gruppen stellt sich zunehmend objektiv die Perspektive des Sozialismus, und dadurch wird eine neue Situation geschaffen«. (Santiago Carrillo: Eurokommunismus und Staat, Hamburg/Westberlin 1977, S.46f)

Diese Verabsolutierung der Sphäre des Geistig-Kulturellen und die Vernachlässigung der simplen Wahrheit, daß es unter kapitalistischer Klassenherrschaft auch im 20. oder 21. Jahrhundert keine Autonomie dieses Bereichs von der Sphäre der politischen Macht und der diese prägenden kapitalistischen Eigentumsverhältnisse geben kann, war und ist nicht nur Illusion, sondern hat zusammen mit dem Verzicht auf eine politische Führungsaufgabe der Arbeiterbewegung zu einem Niedergang in Spanien und Italien geführt, von dem sich die revolutionäre Linke bis heute nicht erholt hat.

Aus Anlaß des 100. Geburtstages von Gramsci schrieb der damalige intellektuelle »Vordenker« und zeitweilige Bundesgeschäftsführer der SPD, Prof. Peter Glotz, einen ganzseitigen Grundsatzartikel in der Zeit unter dem Titel: »Was kann Björn Engholms Partei von Antonio Gramsci lernen?«

Mittlerweile ist der Feingeist Engholm kulturbeflissener Privatier und Rentier, der sozialdemokratische Gramsci-Interpret Glotz ist verstorben. Das Ende nicht nur der IKP, sondern auch ihrer Nachfolgepartei, der Partei der Demokratischen Linken (PDS), die ja beide (angeblich) erfolgreich auf den Spuren Gramscis wandelten, haben beide erlebt. Glotzens Lobrede auf Gramsci und dessen »Sprengwirkung« fand in der Realität eine krude Bestätigung. Doch gewiß anders, als Glotz gedacht hatte, der eine starke, den Massen verbundene und dank Gramscis vermeintlichem Kultur-, Staats- und Hegemoniekonzept ideologisch bestens ausgerüstete linkssozialdemokratische Ex-KP an die Türen der sozialdemokratischen »Sozialistischen Internationale« anklopfen sah.

Es sei Gramscis kluges Staatskonzept mit seiner Unterscheidung von »societá civile« und »societá politica«, seine flexible Strategie, die zwischen »Bewegungs- und Stellungskrieg« unterscheidet, aber vor allem sein weiter Kulturbegriff, der dem »Alltagsverstand« (senso commune) der Massen so sehr viel näher komme als der traditionelle Marxismus-Leninismus.

Der linksbürgerliche Intellektuelle Glotz geriet geradezu ins Schwärmen über die Vorbildrolle Gramscis. Dieser habe »jedenfalls eine zentrale Entdeckung gemacht, über die auch die modernen Linksparteien West- und Mitteleuropas sinnieren sollten. Die ›zivilen Organismen‹ als ›Befestigungswerke und Kasematten‹ der bürgerlichen Gesellschaft.« (Die Zeit vom 18.1.1991, S.40)

Schon einige Jahre vorher hatte Glotz in seinem Buch »Die Arbeit der Zuspitzung. Über die Organisation einer regierungsfähigen Linken« (Berlin 1984) im Sinne der Gramscianischen Terminologie über Wege zu einer linken »Kulturellen Hegemonie« gegenüber dem neukonservativen »herrschenden Block« und über die Entstehung eines »alternativen Blocks« nachgedacht.

Glotz war kein Dummkopf, und tatsächlich ist die Frage nach der ideologisch-kulturellen Untermauerung der politischen und ökonomischen Vorherrschaft der Kapitalistenklasse ein wichtiges Problem und bislang auch noch von keiner sich irgendwie »links« definierenden politischen Kraft gelöst worden.

Wie auch? Wenn der alte Satz von Marx stimmt, daß die Gedanken der Herrschenden die herrschenden Gedanken sind, ist schwerlich einzusehen, daß deren Macht nicht dazu ausreicht, »kulturelle« Bewegungen in ihrem Sinne zu funktionalisieren und ins System zu integrieren. Beispiele aus dem 20. Jahrhundert gibt es zuhauf.

Eine simple Wahrheit

Problematisch, falsch und politisch sogar selbstmörderisch wird es jedoch, wenn Antikapitalisten – und offenbar sogar ein Teil der Kommunisten – unter dem Eindruck eleganter Formulierungen eine simple Wahrheit ignorieren, die Gramsci selbst nicht zu erwähnen vergaß, nämlich daß der »Staat = politische Gewalt + bürgerliche Gesellschaft ist, das heißt durch Zwang gepanzerte Hegemonie«. (Gramsci, a.a.O., S.372)

»Hegemonie« kommt also ohne den »Panzer aus Zwang« nicht aus, wenn sie wirksam werden will – so einfach ist das. Das ist fürwahr keine neue Erkenntnis. Jeder junge Sozialist/Kommunist, der ein Einführungsseminar in den Marxismus-Leninismus besucht, wird spätestens in der ersten Diskussionsrunde zur marxistischen Staatstheorie und den ersten Kapiteln aus Friedrich Engels’ Text »Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats« darauf stoßen. Dazu braucht er noch nicht einmal Lenins berühmte Schrift »Staat und Revolution« zu lesen. Und auch beim Kommunisten Gramsci erfährt er dazu nichts grundsätzlich Neues – von seinen sozialdemokratisch-eurokommunistisch infizierten »Neuinterpreten« ganz zu schweigen.

Anmerkungen:
1 Vergl. » W.F.Haug (Hrsg.): Die Linie Luxemburg-Gramsci. Zur Aktualität und Historizität marxistischen Denkens. , Argument-Sonderband, Hamburg 1989
2 Zu den bis heute zu diesem Thema erschienenen Publikationen aus revolutionär-marxistischer, kommunistischer Sicht zählen das von H.H.Holz und H.J. Sandkühler herausgegebene Buch »Betr. Gramsci. Philosophie und revolutionäre Politik in Italien« von 1980 sowie der von H.H.Holz und G. Prestipio aus Anlaß des 100.Geburtstages von Gramsci herausgegebene Band »Antonio Gramsci heute« von 1991. Aber auch das ältere Büchlein von P.Anderson »Antonio Gramsci. Eine kritische Würdigung« von 1979 läßt sich in die Reihe historisch-kritisch-solidarischer Würdigungen des Politikers, Revolutionärs und marxistischen Theoretikers Gramsci einordnen.

Dr. Hans-Peter Brenner, Diplompsychologe und Psychotherapeut, Mitglied des Parteivorstands der DKP und Mitherausgeber der Marxistischen Blätter

(siehe auch Teil I: Die Luxemburg-Legende)