Am 25. März bot sich in der Grazer Innenstadt ein ungewohntes Bild. Graz, ansonsten bekannt und gerühmt für seine Beschaulichkeit, erlebte die größte Demonstration seit Jahrzehnten. Tausende waren auf der Straße, um gegen das von der rot-schwarzen Landesregierung geplante Budget zu demonstrieren. Eine Demonstration dieser Größe hatte die Stadt wohl seit den Streiks des Jahres 1950 nicht mehr erlebt. Viele bekannte Gesichter fanden sich da in der Menge, aber noch viel mehr, die vielleicht zum ersten Mal die Notwendigkeit gekommen sahen, auf die Straße zu gehen. „Es reicht! Für alle!“ war das treffende Motto der Plattform25, eines Zusammenschlusses von über 500 Organisationen und Einrichtungen aus dem Sozial- und Kulturbereich. Die Ankündigung, dass dies erst der Anfang, der Auftakt des Protests wäre, entsprach dem Gefühl von Vielen. Es ist Zeit etwas zu tun! So kann es nicht weitergehen! Da war viel Wut zu spüren, und auch viel Unverständnis und Empörung darüber, dass gerade in Bereichen, die als gesellschaftlich notwendig und sinnvoll gesehen werden, derart brutal gekürzt werden soll.
Diese Kürzungen machen Sinn!
In vielen Gesprächen, Postings im Netz und bei Redebeiträgen auf der Demo ist es eines der zentralen Themen und Argumente gegen dieses Budget: Diese Kürzungen machen keinen Sinn! Die Landesregierung würde aus Unwissenheit, Ignoranz und Einfallslosigkeit handeln, ihre Politik wäre bestimmt und getrieben durch Macht und Einfluss der (falschen) Lobbys. In Wirklichkeit, so geht das Argument weiter, wäre diese Politik kurzsichtig, nicht nachhaltig, vernichtet Arbeitsplätze, und über kurz oder lang würde es der Gesellschaft und damit uns SteuerzahlerInnen teurer kommen, weil heute im Sozialbereich zu sparen, morgen noch größere Kosten verursacht. Der „Dachverband der Jugendwohlfahrt“1 spricht ganz offen und unverblümt von den „Kosten für die Reparatur“, die in der Folge anfallen werden. Soll heißen: Wenn es uns heute nicht gelingt, Kinder und Jugendliche durch den frühen Einsatz verschiedener Sozialtechnologien zu angepassten und damit arbeitsfähigen Subjekten zu machen, dann werden sie morgen noch weniger angepasste und noch weniger wertvolle (soll heißen: arbeitsfähige) Mitglieder dieser Gesellschaft sein.
Um hier nicht falsch verstanden zu werden: In diesem Bereich arbeiten Tausende Menschen, die mit ungeheurem Engagement und Einsatz darum bemüht sind, Kinder und Jugendliche aus benachteiligten Familien in ihrer Entwicklung zu unterstützen. Aber, ob dieses redlichen Engagements, dürfen wir den Widerspruch in dem sich diese Arbeit bewegt nicht übersehen. Die Begrifflichkeit in der Stellungnahme des Dachverbands mag schmerzen, aber zugleich ist sie ehrlich. Nicht die Änderung der Gesellschaft, die uns (fast) alle krank macht, so oft verzweifeln lässt, und sich einen feuchten Dreck um unsere Bedürfnisse schert, ist das (subventionierte) Ziel, sondern es geht um die Reparatur, das Abfangen der schlimmsten Auswirkungen und Verwüstungen dieser Gesellschaft im Leben des Einzelnen. Wer in dieser Gesellschaft nicht mitkann oder mitwill, der oder die müssen eben repariert werden! Günstiger kommt das eben dann, wenn es schon im Kindesalter passiert.
In eine ähnliche Kerbe, wie der zitierte Dachverband, schlagen auch andere Organisationen. Der „Grazer Frauenrat“2 argumentiert ebenfalls mit dem „Social Return on Investment“ gegen das Budget. Frau geht aber noch weiter und sorgt sich gleich um den Wirtschaftsstandort Steiermark. Damit kommen wir zu dem Punkt, der dieser Argumentationslinie die Krone aufsetzt: Nicht mal ökonomisch macht das Sinn! Gerade in Zeiten der Krise wäre es kontraproduktiv hier zu kürzen, weil damit Arbeitsplätze vernichtet werden! Also ist die Landesregierung sogar in ihrer eigenen (vermeintlichen) Kompetenz, den Wirtschaftsstandort Steiermark wettbewerbsfähiger zu machen und einen Weg aus der Krise zu finden, auf einem Holzweg.
Es soll nun Voves und Schützenhöfer keineswegs unterstellt werden, dass sie wissen würden, was sie tun. Auch wenn es manchmal verlockend ist, mit personalisierten Zuschreibungen Politik zu machen, soll den handelnden Personen mitnichten politisches Knowhow und ökonomische Einsicht unterstellt werden. Aber eines muss festgehalten werden: Diese Kürzungen machen Sinn, sie bewegen sich in einer klaren und nachvollziehbaren Logik, und sie stärken den Wirtschaftsstandort. Dieses Budget ist ein nachvollziehbarer und stringenter, wenn auch schwachbrüstiger, Versuch eine Antwort auf die aktuelle Krise zu finden, und durchzusetzen.
Pflege und Betreuung im Kapitalismus
Dafür ist es wohl notwendig, sich ein wenig Klarheit über den größeren Kontext zu verschaffen. Zu allererst sollte mal daran erinnert werden, dass sich auch in der kleinen steirischen Welt seit Jahrhunderten ein System breitgemacht hat, das wir landläufig als „kapitalistische Produktionsweise“ bezeichnen. Diese befindet sich seit einiger Zeit in der Krise, wie wir wissen, oder korrekter müsste mensch sagen, in der Krise der Krise, aber dazu kommen wir noch. Welchen Sinn macht es also, in diesen Bereichen zu sparen? Zum einen ist es mal ganz banal: Die Staatsverschuldung steigt auf allen Ebenen. Seit Jahrzehnten erleben wir eine Politik, die die Unternehmen und Vermögenden in diesem Land entlastet, und tagtäglich reicher macht. Wenn es weniger Einnahmen gibt, ist auch weniger Geld da, das ausgegeben werden kann. Nachdem Politik, vor allem auch auf staatlicher Ebene, immer eine Frage von Kräfteverhältnissen ist, wird eben bei der Sozialhilfe/Mindestsicherung und bei der Wohnbeihilfe gespart. Wenn es keine Sozialen Bewegungen und Kämpfe gibt, die für ein anderes Kräfteverhältnis sorgen könnten, dann setzen sich notgedrungen die „Anderen“ durch.
Das erklärt aber nur zum Teil, warum besonders dort gekürzt werden soll, wo andere Menschen betreut und gepflegt werden. Dieser Bereich ist in den letzten Jahrzehnten stetig gewachsen, und in der Sozialwirtschaft wurden Tausende Arbeitsplätze geschaffen. Manches davon wird als humanistischer Fortschritt (Betreuung von Menschen mit Behinderungen) erklärt, anderes mit der demographischen Entwicklung (Pflege von alten Menschen) begründet. Also hat all das doch nichts mit dem Kapitalismus und seinen krisenhaften Dynamiken zu tun? Die Frage ist, welche Rolle und Bedeutung die Arbeit im Bereich der Pflege und Betreuung im Kapitalismus hat. Zusammengefasst können wir diese Tätigkeiten als „Care-Economy“ bezeichnen, die all jene Tätigkeiten umfasst, bei denen Menschen für andere sorgen oder für die alltägliche Versorgung anderer Menschen zuständig sind.
Mit diesen Tätigkeiten wird nichts produziert, sie schaffen keinen Wert im engeren Sinne. Also könnte mensch argumentieren, dass es im Kapitalismus eigentlich egal ist, ob diese Arbeit überhaupt geleistet wird, denn sie ist so gesehen „unproduktiv“. Aber zugleich ist uns allen klar, dass der Kapitalismus morgen zusammenbrechen würde, wenn diese Arbeit nicht mehr getan werden würde. Es stimmt schon, dass hier eigentlich nichts produziert wird, aber zugleich wird hier etwas Entscheidendes produziert, nämlich die Ware Arbeitskraft. Diese ist in der kapitalistischen Produktionsweise jedoch keine x-beliebige Ware, wie ein Paar Schuhe, sondern die Ware ohne die gar nichts geht! Diese reproduktive Arbeit ist sozusagen auf der einen Seite wirklich unproduktiv, auf der anderen Seite produziert sie aber alles. Ohne sie geht gar nichts!
Wie und zu welchen Bedingungen die Ware Arbeitskraft produziert wird, war in der Geschichte des Kapitalismus immer ein Feld der Auseinandersetzungen und Kämpfe. Es hat Jahrzehnte gedauert bis durchgesetzt werden konnte, dass nicht nur unmittelbar „produktive“ Menschen versorgt werden, sondern beispielsweise auch alte Menschen (Pensionsversicherung) und Menschen, die nicht arbeiten können, weil sie krank sind (Krankenversicherung), ein Recht auf Existenz haben. All das musste in langen, zähen Kämpfen durchgesetzt werden! Es geht aber auch immer um das Wie! Wie und zu welchen Bedingungen wird die Ware Arbeitskraft produziert? So steht außer Streit, dass das Kapital gut ausgebildete und belastbare Arbeitskräfte braucht. Es muss also Schulen und Universitäten geben, auch wenn diese nur Geld kosten und die Profite mindern. Dem Kapital wäre es klarerweise am liebsten diese Ausbildung würde unbezahlt geleistet werden, und wenn schon bezahlt, dann nicht über öffentliche Einrichtungen, sondern über private Schulen und Universitäten, um damit gleich noch ein weiteres lukratives Geschäftsfeld zu schaffen. Es ist somit kein Zufall, dass wir seit einigen Jahren einen massiven Angriff auf die öffentlichen Universitäten erleben. Glücklicherweise setzen sich weltweit Millionen Studierende gegen diese Maßnahmen zur Wehr. Deren Kämpfe haben mit den aktuellen Protesten im Sozialbereich also nicht nur die unmittelbaren GegnerInnen gemeinsam. Die Proteste zu vertiefen und zu erweitern ist ein Gebot der Stunde, und dies in Richtung der neuen Studierendenbewegung zu tun, liegt auf der Hand.
Aber kommen wir nochmal zur „Care-Economy“ zurück. Trotz wichtiger Errungenschaften wird der größte Teil dieser Arbeit weiterhin unbezahlt geleistet, und es sind vor allem Frauen, die diese Arbeit verrichten. In den letzten Jahrzehnten hat sich jedoch ein sehr großer Sektor der Pflege und Betreuung entwickelt. Allein in der Behindertenhilfe arbeiten in der Steiermark 5.600 Menschen, von denen rund 1.000 von Kündigung bedroht sind. Man könnte nun eine einfache Milchjungenrechnung anstellen. Diese Tausend Menschen erbringen im Laufe eines Jahres eine Arbeitszeit von circa eineinhalb Millionen Stunden. Ein beträchtlicher Teil dieser Arbeitszeit würde einfach gestrichen werden. Also Menschen mit Behinderungen können vieles, das ihnen bisher möglich war, einfach nicht mehr tun, weil die entsprechende Dienstleistungen nicht mehr vorhanden ist. Der größere Rest wird wieder unbezahlt geleistet werden, und da in erster Linie von Frauen. Darauf hat auch Yvonne Seidler, Sprecherin der Plattform25, in ihrem Statement am Beginn der Demo hingewiesen, als sie kritisierte, dass mit diesem Budget Frauen in Zukunft wieder gezwungen sein werden, Pflege- und Betreuungsarbeit unentgeltlich zu leisten. Ein Teil der Arbeit wird auch an Frauen abgeschoben werden, die keine Angehörigen sind. Wenn das Land die notwendige Betreuung nicht mehr zahlt bzw. subventioniert, dann werden verstärkt migrantische Frauen in unterbezahlte, prekäre und noch schlechtere Arbeitsbedingungen gezwungen werden. Im Bereich der Altenpflege sehen wir das schon heute. Diese Kürzungsmaßnahmen haben also sehr viel mit der patriarchalen und rassistischen Verfaßtheit unserer Gesellschaft zu tun.
Dieser ganze ökonomische Sektor von Pflege und Betreuung ist den Bewegungen und Kämpfen der sechziger und siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts geschuldet. Vor allem natürlich der Frauenbewegung, aber auch der Anti-Heim-Bewegung, der Anti-Psychiatrie-Bewegung, usw. Überall haben sich Frauen geweigert, diese Arbeit weiterhin unbezahlt zu leisten. Die kapitalistische Antwort auf diese Weigerung war es, diese Bereiche der Arbeit zu kapitalisieren, also daraus Lohnarbeitsverhältnisse zu machen. Hier kommen wir auch wieder auf die Argumentation zurück, dass die Streichung von Jobs in diesem Bereich ja nachteilig für den Beschäftigungs- und auch den Wirtschaftsstandort wäre. Dem ist aber nicht so. Nachdem diese Bereiche quasi über den Mehrwert, der anderswo geschaffen wird, „mitgetragen“ werden müssen, tut es dem Wirtschaftsstandort tatsächlich gut, wenn dieser Sektor zurückgefahren wird. Für den Wirtschaftsstandort ist ja nicht entscheidend, wie viele Menschen in diesem Raum arbeiten, sondern, ob die entsprechenden Profite gemacht werden. Dabei ist gar nicht so wichtig, ob diese Profite in einer absoluten Größe ein gewisses Niveau erreichen, sondern, ob die Profitrate stimmt, also wie viel Mehrwert (und in der Folge Gewinn) kann geschaffen werden, im Verhältnis zum eingesetzten Kapital. Genau das stimmt eben seit Anfang der siebziger Jahre nicht mehr, und seit damals erleben wir vielschichtige Versuche, die Profite und die Profitrate wieder „in Ordnung“ zu bringen. Daher macht es total Sinn diesen Bereich zu kürzen, Arbeitsplätze abzubauen, und aus bezahlter Lohnarbeit wieder unbezahlte Arbeit zu machen. Diese Versuche hat es in allen Krisen der letzten Jahrhunderte gegeben. Für die Entwicklung der Profite und der Profitrate ist es ein ungeheurer Vorteil, wenn wieder ein größerer Teil des globalen Mehrwerts unbezahlt geschaffen wird. Viel brutaler und radikaler als hierzulande erleben wir diese Politik aktuell im globalen Süden.
Wir haben die Krise!
Mein Appell besteht bloß darin, diese Zusammenhänge zu sehen. Die Krise ist längst nicht überwunden. Im Gegenteil. Die Politik der Landesregierung bewegt sich genau in diesem Feld. Es geht darum die Verwertungsbedingungen des Kapitals wieder zu verbessern. Da dieses Budget als Teil dieser Krisenantwort von oben gesehen werden muss, öffnet sich von unten aber zugleich eine andere Perspektive. Es geht nicht nur um Einsparungen im Sozialbereich. Die Verschlechterungen in anderen gesellschaftlichen Bereichen stehen damit in direktem Zusammenhang. Wenn Menschen in Kurzarbeit geschickt wurden oder entlassen werden, Lohneinbußen hinnehmen mussten, und der Arbeitsdruck erhöht wird, ist das nicht mal die andere Seite der Krisen-Medaille, sondern dieselbe! Aber nicht nur in den Betrieben spüren wir die Krise tagtäglich. Offiziell ist von einer Inflation von zwei, drei Prozent die Rede. In manchen Artikeln wird zwar die „gefühlte Inflation“ von sechs Prozent erwähnt, und das klingt ein wenig danach, dass sich die Leute das halt einbilden, dass es so viel wäre. Aber diese „gefühlte“ Inflationsrate bezieht sich auf die Güter des täglichen Lebens. Die offizielle Inflationsrate wird ja dadurch gedrückt, dass beispielsweise Computer billiger werden, aber wie oft kaufe ich einen Computer und wie oft kaufe ich Brot? Nicht auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole, sondern weil es zentral ist, es immer wieder zu sagen, sei an dieser Stelle nochmal darauf hingewiesen, dass der Erfolg der aktuellen Proteste schlussendlich davon abhängen wird, ob es gelingt dieser Krisenpolitik von oben, die so viele zu spüren bekommen, von unten etwas entgegenzusetzen, weil es eben nicht nur den Sozialbereich betrifft.
Das Besondere an der aktuelle Krise ist, dass sie beileibe nicht bloß eine Finanzkrise wäre. Sie hat das gesamte gesellschaftliche System erfasst! Klimakrise, Hungerkrise, Energiekrise („Peak Oil“, Atomindustrie), und so weiter, und so fort… An allen Ecken und Enden wird deutlich, dass diese Gesellschaftsform, der Kapitalismus, nicht in der Lage ist, diese Probleme auch nur ansatzweise zu lösen. Wir befinden uns in einer welthistorischen Situation. Von der „Politik“ können wir in diesem Moment nichts erwarten. Das war auch bei der Demo am 25. März in vielen Redebeiträgen spürbar und zu hören. Was soll man sich von denen noch erwarten? Dieses politische System befindet sich ebenfalls massiv in der Krise. Beinahe im Minutentakt erreichen uns Nachrichten von neuen Korruptionsfällen und Vetternwirtschaft. Bei jeder Wahl wird zur Kenntnis genommen, dass wieder mehr WählerInnen zuhause geblieben sind. Den Großparteien, also den Stützen der repräsentativen Demokratie, sind seit den achtziger Jahren die Hälfte der Mitglieder davon gelaufen, und von den Verbliebenen hat wiederum die Hälfte den 60. Geburtstag hinter sich. Auf europäischer Ebene, wohin ein Gutteil der nationalen Kompetenzen verlagert wurden, werkt ein Parlament, dem die fundamentalen parlamentarischen Rechte und Befugnisse fehlen. Die Institutionen auf globaler Ebene lassen demokratische Mitsprache überhaupt missen. Kann mensch ernsthaft erwarten, dass von hier noch eine Änderung kommen könnte? Nein, kann mensch nicht. Sie beweisen uns im Gegenteil, dass es um ganz anderes geht. Während der Sozial- und Bildungsbereich ruiniert wird, werden Milliarden verschleudert, um die Banken zu retten, die schon wieder fette Gewinne schreiben. Wenn die Industrie vermeintlich billige Atomenergie braucht, und die Konzerne auf ihre Cashcows nicht verzichten wollen, nimmt man billigend in Kauf, dass ganze Landstriche unbewohnbar werden. Geht’s der Wirtschaft gut, geht’s uns allen gut!
Empört euch nicht!
Aber was tun? Wie sieht eine tragfähige Alternative aus? Bei der Demo wurden so einige Forderungen gestellt: Diese sinnlosen Prestigeprojekte sollten gestoppt werden, und in den Regierungsbüros sollte endlich der Sparstift angesetzt werden. Das ist alles richtig und sollte besser heute als morgen getan werden. Aber wir wissen selbst, dass dies nicht reichen wird. Wir wissen auch, dass es nicht reichen wird, dieses Landesbudget zu verhindern. Damit ist wenig geholfen, wenn die Preise von Lebensmitteln, Wohnen, Energie, und allem anderen Lebensnotwendigen, weiter in die Höhe schießen, während die Löhne stagnieren. Damit ist den Tausenden Erwerbslosen in diesem Land nicht geholfen, und den Tausenden, die unter der Armutsgrenze leben müssen ebensowenig. Die Zeit in der wir leben ist wirklich empörend, oder?
Aber es geht nicht darum sich zu empören. Die Empörung ist langweilig. Die, die sich empören, wirken wie die letzten Wächter und Verteidiger des untergehenden Systems. Empörend wäre es, wenn wir enttäuscht, oder hintergangen worden wären. Doch das würde voraussetzen, dass wir bisher ein gutes Leben gehabt hätten, dass wir bisher keine Sorgen gehabt hätten, wie wir die nächste Miete bezahlen, es uns nicht Angst machen würde, was sein wird, wenn wir krank oder alt sind, und wir nicht schon jetzt darum kämpfen müssen, wie wir unseren Kindern ein gutes Leben ermöglichen. Empörend wäre es, wenn wir nicht schon bisher in Angst um den Arbeitsplatz gelebt hätten, und so viele von uns nicht schon bisher so oft am Rande des Zusammenbruchs gewesen wären, weil wir mit diesem Druck einfach nicht mehr klarkommen. Dem war nicht so! Schon bisher war es ein tagtäglicher und oft entwürdigender Kampf. Wir haben also keinen Grund zur Empörung, aber viele Gründe es endlich ganz anders zu machen.
Von Seiten der IG Kultur wurde am 25. März die Richtung angedeutet, die wir gehen sollten. Sie haben nicht die Forderung nach dem Verhindern der Minus 25% aufgestellt, sondern nach einem Plus von 25% verlangt. Ein erster Schritt, denn damit wäre zumindest mal das kompensiert, was uns in den letzten Jahren genommen wurde. Es ist Zeit, dass wir uns ALLES holen. Wenn der Druck von allen Seiten steigt, dann ist es Zeit, dass wir alle gemeinsam auf allen Ebenen handeln. Aber geht denn das? Ist das nicht Utopie? Sollten wir uns nicht darauf konzentrieren, das Schlimmste zu verhindern? Doch erleben wir nicht gerade in diesen Tagen, dass alles möglich ist? Vor drei Monaten war es für die Menschen in Kairo eine Utopie, einfach unvorstellbar, dass es ein Leben ohne Mubarak und seinen Clan geben könnte. Und jetzt?
Zur Stärkung daher ein kleines Bonmot: Das Wirtschaftsmagazin „The Economist“ hat vor einem Jahr, als die Krise voll im Gange war, eine recht interessante Weltkarte veröffentlicht. In den Regierungsbüros und den Konzernetagen war man sich einig, dass diese Krise zu noch mehr Armut, Erwerbslosigkeit und Verelendung bringen wird, und damit das Risiko von sozialen Unruhen steigen könnte. „The Economist“ hat nun versucht dieses Risiko für soziale Unruhen darzustellen, damit die Konzernchefs wissen, wo sie vielleicht besser nicht investieren sollten, und die Regierungschefs gleich mal wissen, in welchem Land im Falle des Falles eingegriffen werden muss. Die Skala umfasst vier Risikostufen: „Niedrig“, „mittel“, „hoch“, und „sehr hoch“. Die meisten europäischen Länder – und auch Österreich – sind auf der Karte gelb („niedrig“) und beige („mittel“) eingefärbt, also: „Keine Panik! Niedriges bis mittleres Risiko!“ Doch damit befinden wir uns in guter Gesellschaft. Tunesien, Ägypten, Libyen und Syrien erscheinen in denselben Farben. Dort wurde in den letzten Wochen und Monaten bewiesen, dass man jede Regierung verjagen, und den Versuch unternehmen kann, es ganz anders zu machen.
Dr. Leo Kühberger ist Volkswirtschaftler und ehemaliger Aktivist des KSV
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