Den folgenden offenen Brief schrieb der peruanische Student Ramiro Wong. Er schildert, wie
besonders schwer es für Studierende aus dem globalen Süden ist, ganz besonders in Zeiten
von Corona.
Freund*innen, Kolleg*innen, Lehrende, akademische und nicht akademische Mitarbeiter*innen der Universitäten Österreichs.
Heute befinden wir uns an einem kritischen Punkt in der Geschichte. Es ist eine Zeit, in der Kaffeehaus-, Museums- und Kinobesuche, Essen im Restaurant etc. außer Frage stehen, in der wir unsere Tage beschränkt auf unsere eigenen Privaträume verbringen, eine Zeit, in der wir selten rausgehen. Und wenn wir das tun, schleppen wir nicht nur Einkaufstaschen sondern auch unsere Angst um eine unsichere Zukunft und um die Richtung, in die wir als Individuen und als Gesellschaft gehen, mit uns herum.
Diese Angst resultiert aus dem Fehlen von Jobs, Geld, Zugang zu einer ausreichenden Krankenversicherung, Bildung sowie aus vielen anderen sozioökonomischen Spannungen, die uns verstehen lassen, dass wir an einem Moment angekommen sind wo sich etwas ändern muss.
Ich erinnere mich, wie ich das erste Mal in dieses Land kam, meine allererste Reise nach Übersee. Es war der Sommer 2015 und die Möglichkeit als Künstler im Ausland auszustellen hatte sich eröffnet. Doch – wie das oft der Fall ist bei Künstler*innen aus dem globalen Süden – waren die Kosten nicht gedeckt. Damals hatte ich es geschafft eine kleine Summe Geld anzusparen, die mir die Reise ermöglichte. Also packte ich meine Taschen, gab meiner Mutter einen Abschiedskuss und begann die Reise.
Jetzt, über fünf Jahre nach Beginn dieser Reise – mit vielen Malen Kommen und Gehen – sind meine Eindrücke von diesem Land mehr als Erfahrungen geworden. Sie sind eine Realität, in der ich als migrantischer Student jeden Tag navigieren muss.
Wenn mich am Anfang einige Leute freundlich gefragt haben „Woher kommst du?“, so ist dieses Kriterium heute das, was mich wieder und wieder von Stipendien, Förderungen, Wohnräumen, Praktikas, Jobs etc. ausschließt.
Wenn die Leute auf meiner ersten Reise versuchten, meinen Namen richtig auszusprechen, mich nach meinen Wurzeln fragten, so sind mein Name und meine Herkunft heute der Grund, warum mir Bewerbungsgespräche und Mietverträge verwehrt werden.
Wenn ich am Anfang dieser Reise nicht viel mehr als ein Tourist war, kann ich dieser Tage nicht länger ein stiller Beobachter bleiben. Deshalb bin ich ein Fürsprecher von Gleichberechtigung und Gleichheit in der Differenz. Eine Position für die ich, anstatt Unterstützung und Verständnis entgegengebracht zu bekommen, kritisiert und attackiert werde – von Menschen und Institutionen um mich herum, die ihre Untätigkeit mit der Behauptung rechtfertigen, dass sich die Gesellschaft nicht ändern wird, dass das System zu elitär ist, dass es für sie unmöglich ist, sich gegen Gesetze und Vorgaben aus dem Ministerium zu stellen und dass Leute in Machtpositionen keine signifikante positive Veränderung in unseren Leben bewirken können und werden.
Diese Menschen und Institutionen sind die, die sich weigern ihre Rolle und Verantwortung – um des Komforts Willen – anzuerkennen, die einigen wenigen auf Kosten und zur Verzweiflung vieler zuteilwird.
Die Unschuldigkeit, die von den Höheren Bildungseinrichtungen vermittelt wird, verhindert, dass die Angehörigen dieser mit der Realität konfrontiert werden – einer Realität in der sie diejenigen sein könnten, die Segregation, Diskriminierung und Prekarisierung verhindern könnten. Eine Realität die alle Ebenen des Hochschulsystems umfasst, von Rektor*innen, Vize-Rektor*innen, bis hin zu Lehrenden, Vorgesetzten der Belegschaft und nicht zuletzt der Studierendenschaft.
Wieso ist es also jetzt der Fall, dass nicht nur Studierende, sondern auch Lehrende, die akademischen und administrativen Mitarbeiter*innen, sowie Rektor*innen und Vize- Rektor*innen auf die bevorstehenden Veränderungen im Universitätsgesetz, welche die Obersten im Parlament und im Bildungs- und Wissenschaftsministerium durchsetzen wollen, reagieren? Wieso jetzt? Wieso nicht davor?
Anfang September habe ich in einem offenen Brief einen 21-tägigen Protestakt gegen die Änderungen und Vorgaben des Ministeriums, welche im Universitätsgesetz gemacht wurden, welche die Gleichberechtigung (durch Erhöhung der Studiengebühren für Drittstaatenangehörige) noch weiter gefährdeten oder – besser gesagt – das Fehlen von Gleichberechtigung aufzeigen. Dieser Protestakt war nicht sui generis, keine singuläre Erscheinung – im Gegenteil, er wurde von vielen anderen Protesten begleitet, die unsere Kolleg*innen wieder und wieder initiierten und auf welche die Universitäten Reaktionen schuldig blieben und keine Taten folgen ließen.
Was sollen unsere Universitäten sein? Sollen sie nicht „die nächste Generation von Studierenden bilden und […] auf ihre Berufslaufbahn vor[bereiten] und […] zu kritischem Denken und selbstbestimmtem Handeln an[regen]“ ? Sollte nicht jede Universität anstreben „…eine offene Universität, an der Diskussionen stattfinden, Meinungen vertreten und Argumente gehört werden“ zu sein? Und dabei daran glauben, dass „Vielfalt […] das Zusammenleben und -arbeiten [bereichert]“ ? Sollte es nicht Teil ihrer Mission sein „Diversität [zu pflegen] indem das Prinzip der Chancengleichheit in allen Bereichen der Universität Anwendung findet“ und „aktiv gegen Diskriminierung und für Chancengleichheit ein[zutreten]“ ? Oder sind das nur Worte, Worte wie Integration, Diversität, Gleichberechtigung? Und wenn es – offenkundig – so ist, dass diese Worte und Ideale benutzt werden, in welchem Ausmaß und zu welchem Zweck?
Ich bin überzeugt, dass diese kritische Zeit in der wir leben uns vor Herausforderungen stellt. Herausforderungen die nicht weiter von uns wegschiebbar sind – nicht in die Zukunft, sondern denen man sich in der Gegenwart stellen muss. Dass die Lösungen dieser Herausforderungen kooperativ und vielschichtig sein sollten. Doch wenn wir „statt auf einfache Antworten […] auf das Suchen nach passenden neuen Fragen und auf Strategien, die wir aus unserem konkreten Handeln heraus immer wieder neu entwickeln [setzen]“, was und wo sind diese konkreten Handlungen?
Manche von Euch mögen dies mit Zweifel lesen, andere halten es vielleicht für eine Übertreibung, für ein paar mag das eine sarkastische Reaktion provozieren, doch alle von uns: Studierende, Migrant*innen, Menschen aus der Arbeiter*innenklasse, begegnen dieser Realität nicht nur mit Zynismus, sondern mit Enttäuschung und ohne Vertrauen in die Leuten, die uns repräsentieren sollen, ohne Zuversicht in die Institutionen, denen wir unser Vertrauen geben.
Das sind die Gefühle, die Menschen davon abhalten, aktiv zu werden, ihre Stimme zu erheben. Denn während Institutionen lauthals die Ideale von Diversität, Integration und Gleichberechtigung für sich beanspruchen, sagen uns ihre Handlungen (oder das Fehlen dieser), dass wir die Hoffnung aufgeben sollten, dass wir uns mit weniger zufrieden geben sollten, dass das, was richtig sein sollte nur ein Privileg ist, dass wir einen Schritt zurücktreten und akzeptieren sollten, was auch immer uns gegeben wird und dafür dankbar sein sollten, dass wir in einer Gesellschaft, die sich unterschwellig aber stark gegen unsere Anwesenheit in diesem Land positioniert, die Möglichkeiten die wir bekommen wertschätzen und akzeptieren sollten, dass im Namen der Freiheit Kompromisse gemacht werden, die unsere Rechte, unsere Würde und unsere Existenzen betreffen. Doch wenn Freiheiten das sind, was uns nicht nur verwehrt sondern auch weggenommen wird – frage ich mich – wieso müssen wir dann die Verantwortungen dieser Freiheit, die wir nicht genießen, mittragen?
Ich denke an diesem Punkt sind wir heute – an einem Punkt, wo es uns reicht.
Es reicht uns, dass Gleichberechtigung ein Recht und eine Realität für manche ist.
Es reicht uns, dass Möglichkeiten und Erfolg das Leben von wenigen prägen.
Es reicht uns, dass Freiheit ein Privileg auf Kosten der vielen ist.
Ich möchte diesen Brief damit beenden euch zu sagen, dass wir uns weigern sollten, dass wir aufhören sollten zu träumen und anfangen zu kämpfen. Ich möchte euch bitten, weiterzukämpfen und danach zu streben, diese Ideale aufzubauen und sie in die Tat umzusetzen. Ich möchte darum bitten, dass wir weiter arbeiten, denn wenn wir diese Menschen noch nicht sind, dann sollten wir darauf hinarbeiten, wir sollten darauf hinarbeiten, allen Leuten gemeinsam eine bessere Realität zu ermöglichen, bessere Bedingungen, echte Freiheit und wahrhaftige Gleichberechtigung und Gleichheit in der Differenz für alle.
Es ist wahr, dass alle von uns – in unterschiedlichem Ausmaß und aus verschiedensten Gründen – privilegiert sind. Doch es geht um die Entscheidung, wie wir dieses Privileg nutzen, mit der wir tatsächlich Veränderung erwirken können.
Die Zeit darüber nachzudenken ist vorbei, es ist jetzt an der Zeit aufzustehen, zusammenzuhalten, gemeinsam zu agieren, es ist jetzt an der Zeit uns gegenseitig zu helfen, das beste aus unserer Bildung und unseren Leben zu machen.
Alle von uns, oder keine*r von uns.
Mit ganzem Herzen,
Ramiro Wong