Der italienische Philosoph Domenico Losurdo ist heute einer der wichtigsten marxistischen DenkerInnen weltweit. In zahlreichen Büchern wendet er sich gegen verschiedene Versuche der etablierten bürgerlichen Geschichtsschreibung, die historischen Tatsachen zu verdrehen. Dabei kann er sich stets auf umfassendes Quellenmaterial stützen.

Losurdo, Jahrgang 1941, lehrt an der Universität Urbino und ist Präsident der Internationalen Gesellschaft für dialektisches Denken. Um es vorab schon einmal erwähnt zu haben: Losurdo hält Ende Jänner zwei Vorträge in Salzburg, nähere Informationen dazu siehe auf Seite 12.

In den letzten Jahren hat er sich vor allem als Kritiker des Geschichtsrevisionismus hervorgetan und in zahlreichen Büchern über verschiedene Themen versucht, die Deutungshoheit der herrschenden Meinung (welche ja immer die Meinung der Herrschenden ist) mittels einer umfassenden Analyse der historischen Fakten ins Wanken zu bringen. Dabei bedient er sich stets umfassenden Quellenmaterials, seien es Originaldokumente oder die neuesten Forschungsergebnisse.

Seine Methode in der historischen Forschung ist die einer „allumfassenden Komparatistik“, denn: „So furchtbar es auch sein mag, muss ein historisches Ereignis, wenn es genannt, beschrieben und verstanden werden will, mit anderen verglichen werden“.

Wir wollen uns hier beispielhaft mit einem Buch Losurdos auseinandersetzen, welches ein „Meilenstein [ist], weil es anhand eines sehr prägnanten Beispiels die Fehler und die Oberflächlichkeit der bürgerlichen Geschichtsschreibung aufzeigt“.

Josef Stalin, ein Bösewicht?

In seinem erst kürzlich auf Deutsch erschienenen Buch „Stalin – Geschichte und Kritik einer schwarzen Legende“ nimmt Domenico Losurdo Stalin sowie das Bild, das man heute über ihn hat, unter die Lupe. Dabei fragt er sich zuerst, wie es überhaupt möglich war, dass Stalin nach seinem Tod zu einem der großen Dämonen des 20. Jahrhunderts stilisiert werden konnte, während er zu Lebzeiten in Ost wie West gleichermaßen geschätzt und verehrt worden war. Im Anschluss untersucht er, inwiefern das heute vorherrschende Bild gerechtfertigt ist oder nicht. Dabei hält er die Kategorie ‚Stalinismus‘ für „nicht überzeugend“, denn „sie scheint eine homogene Gesamtheit von Doktrinen und Verhaltensweisen vorauszusetzen, die es nicht gibt“.

Wie immer strebt Losurdo auch in diesem Buch eine „allumfassende Komparatistik“ an und will „weder die gesamte Geschichte Russlands noch die im Zweiten Dreißigjährigen Krieg engagierten westlichen Länder aus den Augen verlieren“. In Bezug auf die verschiedenen Stalinbilder, die es gab und gibt, geht es Losurdo darum, „nicht eines davon zu verabsolutieren, sondern vielmehr alle zu problematisieren“. Zu diesem Zweck gilt es, „die Unangemessenheit des moralisch-manichäischen Ansatzes zum Verständnis Stalins und des von ihm geleiteten Landes zur Kenntnis zu nehmen“ und nicht „vor dem komplexen Charakter des historischen Prozesses zurückzuschrecken“.

Während die bürgerliche Geschichtsschreibung bei der moralischen Verurteilung Stalins und der Sowjetunion stehenbleibt, fordert und praktiziert Losurdo eine Historiographie, welche das moralische Urteil zwar einschließt – dieses erweise sich aber als „oberflächlich und heuchlerisch, würde es ohne Berücksichtigung des historischen Kontexts formuliert“. Dabei geht es jedoch „nicht, wie manch Kritiker behauptet, um Relativierung oder Entschuldigung von Fehlentwicklungen im Sozialismus, es geht ihm um den Vergleich mit der bürgerlichen Gesellschaft, um so dem sozialistischen Experiment Gerechtigkeit widerfahren zu lassen“.

Losurdos Buch holt den komplizierten historischen Kontext in die Bewertung Stalins ein und stellt Vergleiche ähnlich gelagerter historischer Situationen an. Dabei tun sich ungeahnte Abgründe westlicher Regierungen auf, die in der kapitalistischen Propaganda gerne verschwiegen werden: willkürliche Repressionen bis zum Äußersten, Konzentrationslager, Massentötungen; wohlgemerkt auch im 20. Jahrhundert. All diese Verbrechen des liberalen Westens machen Verbrechen in der Sowjetunion nicht weniger verwerflich – dennoch muss der Verweis auf Erstere dazu dienen, Letztere so weit zu relativieren, wie sie bisher verabsolutiert wurden.

Alles in allem: Man bekommt nach Lektüre dieses Buches das Gefühl, dass die Geschichte vom paranoiden Bösewicht Josef Stalin vielleicht eher ein Märchen ist und dazu dienen soll, die Menschen von der kommunistischen Bewegung fernzuhalten. Und dass Stalin eine ungleich höher stehende Moral vertreten und in seiner Politik auch tatsächlich praktiziert hat als etwa Churchill oder Roosevelt. Bevor jetzt jemand in Wutausbrüche verfällt ob dieser Aussage, die der herrschenden Meinung allzu sehr widerspricht, sollte er/sie sich erst einmal Zeit nehmen und dieses Buch in Ruhe lesen. Und zwar ebenso nüchtern und vorurteilsfrei, wie es selbst an die historischen Fakten herangeht.