Wenn Universitäten ihre Jubiläen begehen, erinnern sie sich ihrer Geschichte. Dann werden Darstellungen des Weges verfaßt und publiziert, den sie durch die Jahrhunderte zurückgelegt haben. An Autoren fehlt es im eigenen Hause nicht, und meist auch nicht an Ehrgeiz. Es entstehen dann in aller Regel wahre Wälzer, kiloschwere Abhandlungen. Die haben bei allem forscherischen Verdienst, das sie repräsentieren, einen Nachteil. Was in ihnen an nicht nur Erinnernswertem, sondern auch an Anregendem mitgeteilt wird, kommt zumeist nicht vor die Augen der Studierenden. Vielfach betrifft deren Unwissen selbst die Geschichte des eigenen Faches. Schon die Frage nach der Biographie des Namensgebers der Hohen Schule ruft mitunter Stottern hervor.

Wüstenbewohner

Im vergangenen Jahr beging die Berliner Humboldt-Universität ein solches Jubiläum. Sie wurde 200 Jahre alt. Und wie üblich: Sie legte eine geschichtliche Bilanz vor. In seinem Umfang stellt das noch nicht vollends an sein Ziel gelangte Unternehmen alle seine Vorläufer weit in den Schatten. Vorgelegt werden sechs Bände unter dem Generaltitel »Die Geschichte der Universität Unter den Linden 1810–2010«. Warum ihr gut eingebürgerter Name nicht benutzt wurde, mag daran liegen, daß sie den zu DDR-Zeit erhielt. Einleuchtend, daß die Herausgeber nicht auf die Benennung nach dem ursprünglichen Namensgeber zurückgreifen mochten, einen Preußenkönig. Überzeugend aber ist die Wahl der Postadresse nicht.

In dem Unternehmen wird die Geschichte der institutionellen Gliederungen der Universität von jener ihrer Disziplinen, deren Entwicklung und Erträgen getrennt. Auch das erscheint ein wenig gewaltsam. Sei’s drum. Die ersten drei Bände biographieren also die Institutionen, die folgenden drei stellen die Praxis ihrer Disziplinen dar. Manches Exemplar bringt es auf mehr als 800 Druckseiten. Schweigen wir über die Buchhandelspreise. Wissenschaftshistoriker sind mit der Aufgabe, das Werk zu besprechen, jedenfalls eine Weile beschäftigt. Hier soll lediglich ein Problem behandelt werden, vor dem die Autoren standen. Es war durch den Wandel verursacht, der sich zwischen diesem und dem 25 Jahre zuvor begangenen Jubiläum vollzogen hatte, also durch Ereignisse und Folgen der sogenannten Wende. Der Begriff kann in diesem Zusammenhang eine gewisse Berechtigung beanspruchen, denn in einer Hinsicht hat sich die Geschichte der Universität wirklich total gewendet, seit sie aus einer Hochschule der DDR zu einer solchen der Bundesrepublik umgestaltet wurde. Wie im Kaiserreich ein Gelehrter vom Range Franz Mehrings nicht den Schimmer einer Aussicht besaß, auf einen Lehrstuhl der – damals so genannten – Friedrich-Wilhelms-Universität zu gelangen, wie der Friedrich-Engels-Biograph und Lassalle-Forscher Gustav Mayer in der Weimarer Republik ohne Chance war, an dieser alma mater einen ordentlichen Lehrstuhl zu besetzen, so wurde nun dafür gesorgt, daß Historiker und andere Gesellschaftswissenschaftler der Marxschen Schule das Feld zu räumen hatten.

Der Vorgang ließ sich in einer bis an die Gegenwart heranführenden Geschichtsdarstellung nicht gut umgehen. Er war auch nicht in dem Stil zu verbrämen und zu verhübschen, in dem das nach 1990 geschehen war. Damals wurde zur Beschreibung der Situation, in der die Wessis die Gesellschaftswissenschaften, die Geschichte zumal, angetroffen hatten, das Bild einer »Wissenschaftswüste« gewählt. Auch an deren Stelle sollten, der Devise des Bundeskanzlers folgend, blühende Landschaften gesetzt werden. Wüstenbewohner taugten dafür auch als Hilfs- und Zeitarbeiter nicht.

Tabuzonen

Eine Geschichtsschreibung mit wissenschaftlichem Anspruch hätte davon, auf Quellen basierend, unschwer handeln können, ja müssen. Dies um so mehr, als den ostdeutschen Kollegen, die nun Kollegen nicht mehr waren, rechtens vorgehalten worden war, daß sie ihnen verordnete Tabuzonen respektiert hatten. Ein Schelm mag sagen, der Geist des eben von den DDR-Historikern beräumten Ortes hätte es dahin gebracht, daß derlei Verletzungen forscherischer Redlichkeit sich übertrugen und also so etwas wie eine Ansteckung vor sich gegangen wäre.

Indessen: Die Sache ist verwickelter. Wer gibt, obendrein wenn er Historiker ist, leichten Herzens zu, daß er die geschichtlichen Vorgänge der Wende einnebeln half oder deren Verfälschung auch nur kommentarlos hinnahm und gar davon profitierte? Das aber ist der Fall dieser Geschichtsschreiber. Sie gelangten doch auf ihre heutigen Arbeitsplätze, nachdem sie von jenen freigemacht worden waren, über deren Leistungen und Fehlleistungen sie jetzt zu urteilen sich unterfangen. Das bringt – zumindest einen Rest – von Verlegenheiten mit sich.

Die äußern sich im Text von Wolfgang Hardtwig, der sich 1991 von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg als Professor für Neuere Geschichte an die Humboldt-Universität berufen ließ, wie folgt: Die Legende von der Wüstenei ist aufgegeben. Das mag nicht einmal notwendig gewesen sein, denn schon als sie in Umlauf gesetzt wurde, war hochfraglich, ob überhaupt ein westdeutscher Historiker an sie glaubte. Jedenfalls hat sie ihre politische Rolle längst gespielt und wurde entbehrlich. Mehr noch: Das Festhalten an ihr konnte blamieren.

Nun werden den in DDR-Zeit an der Humboldt-Universität lehrenden und forschenden Historikern Verdienste zugestanden, erworben – dies ist eine verkürzte Auswahl – durch quellengestützte Forschungen zur Geschichte des Bauernkrieges, der Revolution von 1848, der Entwicklung der deutsch-sowjetischen Beziehungen zwischen den Weltkriegen und deren Antrieben. Ausdrücklich erhält die DDR-Historiographie auch »Forschungsleistungen zur preußischen Geschichte« bescheinigt. Auf dem Felde sozialgeschichtlicher Untersuchungen wären die ostdeutschen den westdeutschen Fachleuten gar vorausgegangen. Es sei Unter den Linden im Laufe der Jahrzehnte ein Klima entstanden, das wissenschaftlichen »Fortschritt« nicht prinzipiell ausschloß. Ja, es müsse ausdrücklich darauf hingewiesen werden, daß die Beziehungen zwischen Wissenschaftlern der beiden deutschen Staaten sich versachlicht hätten und die »Kommunikationsfähigkeit« der Ostdeutschen hergestellt wurde. Das alles ist unüberlesbar in einem – die Sprache ist eben doch auch ein Verräter – gnädigen Ton aufgeschrieben. Aber immerhin! Und es läßt fragen: Wie hätte sich vor dem Hintergrund solcher Feststellungen die Politik gerechtfertigt, die als Erneuerung ausgegeben wurde?

Nun läßt sich das alles folgenlos drucken. So kann und soll wohl auch der Eindruck vollkommener Objektivität und quasi kollegialer Redlichkeit entstehen und bezeugt werden, man könne bei solchem Urteil an den rigorosen Maßnahmen und der sie begleitenden Propaganda überhaupt nicht beteiligt gewesen sein. Wäre es nicht hoch gegriffen, ließe sich an das Bild der Pilatus-Handwäsche denken. Kreuzigungen sind aber doch nicht vorgekommen.

Freilich: Die Frage nach der Begründung für die dreist auch »Elitentausch« – wohin sind die DDR-Historiker und ihre Kollegen anderer naher und ferner Disziplinen denn getauscht worden? – genannte Politik der Entfernung durch gruppenweise Abwicklungen oder individuelle Kündigungen ließ sich ganz nicht umgehen. Das wurde delikat bewältigt. Zunächst wird das Geschehen in Charakter und Ausmaß mit der Bemerkung minimiert, die ostdeutschen Historiker wären an der Humboldt-Universität marginalisiert worden. Das ist eine hübsche Umschreibung der Tatsache, daß sich die einen auf Arbeitsämtern, andere in mehr oder weniger berufsfremden Tätigkeiten wiederfanden. Dann wird in einem zusammenfassenden Satz nahezu alles vordem Geschriebene zurückgenommen. Zum Vorwurf der Vertreibung der geistigen Widersacher und Konkurrenten von ihren Arbeitsplätzen wird bemerkt, daß dies schon der Sache nach unmöglich gewesen sei. Denn: »Es gab an der Universität keine zu vertreibende profilierte marxistische Geschichtswissenschaft …, die eine echte Herausforderung für die westdeutsche Geschichtswissenschaft dargestellt hätte.« Was will uns Hardtwig damit sagen? Ja, hätte sich vor zwanzig Jahren in der Humboldt-Universität ein Marx oder Engels, ein Bernstein oder Kautsky oder – siehe oben – ein Mehring oder Mayer entdecken lassen, dann wäre etwas zu vertreiben gewesen. So aber? Konnte man sich auf die Erneuerung beschränken. Mit welchem Resultat, behauptet der Schlußsatz des Beitrags. Es »entstand sehr schnell ein auch nach westdeutschen Standards sehr gutes ›Institut für Geschichtswissenschaften‹«. Ja, was denn sonst?

Die Geschichte der Universität Unter den Linden 1810–2010. Oldenbourg Verlag, München 2010, sechs Bände, 592 Euro

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