Zwei Jahre ohne Unterbrechung gehen Jugendliche in Chile für einen kostenlosen Zugang zu Uni und Schule auf die Strasse. Eine Reportage.

Santiago de Chile. In der Nähe der Moneda, dem chilenischen Präsidentenpalast, berühmt geworden durch jene tragischen Ereignisse, die sich während des Militärputsches im Herbst 1973 dort abspielten, befindet sich das Hauptgebäude der Universidad de Chile, kurz die „Chile“ genannt. Die Wände sind mit Spruchbändern behängt, die eine kostenlose Bildung fordern. Gleich dahinter befindet sich das Gebäude des Instituto Nacional, einer der angesehensten Schulen Chiles. Das Tränengas der Polizei liegt hier noch in der Luft und lässt die Augen brennen. Das Instituto Nacional befindet sich ebenso wie die „Chile“ und unzählige andere Bildungseinrichtungen im ganzen Land seit Monaten im Streik. Stühle und Tische sind am Zaun der Schule befestigt und bilden so eine symbolische Grenze. Gleich daneben findet sich, ebenfalls am Zaun, aus mehreren Zetteln „RIP Rector“ geformt. Bei näherem Hinsehen erweisen sich die Zettel als Anzeigen gegen streikende SchülerInnen, die Tags zuvor von den wenig zimperlich vorgehenden „Pacos“ (was man wohl mit „Kiberer“ übersetzen könnte) aus dem Gebäude geholt wurden.

La educación chilena no se vende – se defiende!

An der Kreuzung zur Hauptstraße formiert sich eine Demonstration. Hunderte Schüler (das Instituto ist eine Bubenschule) und auch StudentInnen ziehen Richtung Rathaus um gegen die Verhaftung ihrer Kollegen zu protestieren. Zahlreiche PassantInnen, darunter auch wir, schließen sich an, angefeuert von anderen. „Adelante la Juventud“ (Vorwärts die Jugend) ruft uns ein alter Mann zu.

Die chilenischen Bildungsproteste erfreuen sich mittlerweile eines breiten Rückhalts in der Bevökerung. Bildung ist in Chile ein großes Thema, ohne Universitätsabschluss wird es immer schwieriger, einen Job zu finden, mit dem man sich seinen Lebensunterhalt verdienen kann. Ohne Schulabschluss befindet man sich am untersten Ende der Gesellschaft. Und Bildung ist teuer. Schon die staatlichen Schulen und Universitäten kosten viel Geld. Die Plätze dort sind hart umkämpft und nur mit ausgezeichneten Noten zu erreichen. Die privaten Schulen und Unis sind allerdings noch um ein Vielfaches teurer. Nur die Oberschicht kann es sich leisten, zu studieren, ohne dabei Schulden anzuhäufen.

Der Demozug kommt am Plaza de Armas an. Empfangen wird er dort von Polizeieinheiten mit Körperpanzerung und Schlagstock. Schlimmer jedoch sind die „Pacos“, die sich mit scharf gemachten Schäferhunden im Abstand von einem Meter zueinander unmittelbar vor den Demonstranten aufstellen. Die Hunde sind kaum zu halten, stellen sich auf die Hinterbeine und bellen wie wild. Mancher Demonstrant findet sein Gesicht nur wenige Zentimeter von den messerscharfen Zähnen entfernt wieder. Ein Passant wird von einem Hund in den Arm gebissen – sofort führen ihn zwei Polizisten ab. Um die Ecke warten weitere Spezialeinheiten, gepanzerte Polizeifehrzeuge und Wasserwerfer. Übrigens Fabrikate einer österreichischen Fahrzeugfirma. Die Demonstranten weichen zwar etwas zurück, bleiben jedoch vor Ort. Sprechchöre und Gesänge werden angestimmt, das Motto der Schule gerufen. Als ein weiterer Demozug von einer Mädchenschule eintrifft, kocht sie Stimmung wieder auf, gemeinsam lässt man es noch einmal laut werden. „Das ist dieselbe Diktatur wie unter Pinochet“, schreit ein Mann in Richtung Polizei.

Der Bildungssektor: ein Erbe der Diktatur

Einen Tag später sitzen wir mit Karol Cariola in einem kleinen Café am Plaza Italia. Karol ist Generalsekretärin der JJCC, der kommunistischen Jugend Chiles, welche stark an der Organisation der Proteste beteiligt ist. So stellte die JJCC, kurz „Jota“, mit Camila Vallejo etwa zwei Jahre lang die Präsidentin der Studierendenvereinigung der Universidad de Chile. Aktuell ist sie deren Vizepräsidentin. Vallejo gilt als populärste Anführerin der Studierendenproteste und lenkte auch zahlreiche europäische Medien auf die Thematik.

„Das chilenische Bildungssystem stammt aus der Zeit der faschistischen Diktatur Pinochets“, erklärt Karol Cariola. „Chile war damals Versuchskaninchen für eine neoliberale Politk ohne Kompromisse. So wurde auch im Bildungssektor radikal privatisiert – die Folgen sehen wir heute!“ Überhaupt könne man in Chile nicht von einem politischen Bruch mit dem Ende der Diktatur sprechen. Sebastian Piñera etwa, aktuell Präsident Chiles und einer der erbittertsten Gegner der Studierenden, begann seine politische Karriere unter Pinochet. Auch wird gegen die demonstrierenden StudentInnen ein Anti-Terror-Gesetz angewandt, das in der Diktatur geschrieben wurde.

„Ein Schritt, der nicht rückgängig gemacht werden kann“

Seit mehr als einem Jahr streiken SchülerInnen und Studierende in Chile. Sie zeigen dabei eine enorme Geschlossenheit, stets ist eine Mehrheit für Protestaktionen. Immer wieder kommt es in Chiles Städten zu Demonstrationen – oft werden diese gewaltsam von der Polizei beendet. Diejenigen, die verhaftet werden, erwartet Übles. Hinter vorgehaltener Hand erzählt man sich von Misshandlungen und sogar Vergewaltigungen.

Für die chilenische Jugend bedeutet dies alles einen enormen Aufwand, nicht zuletzt organisatorischer Natur. Trotz massiver Repression hat man es geschafft, mit immer neuen und kreativen Formen des Protestes mehr und mehr Bewusstsein zu entwickeln. Karol Cariola beschreibt die Situation folgendermaßen: „Mittlerweile sind sich alle ChilenInnen einig, dass im Bildungsbereich etwas passieren muss. Auch wenn nicht alle unseren Forderungen zustimmen, wissen sie doch, dass es so nicht weitergehen kann. Der Schritt, den wir gemacht haben, war so groß, dass es kein Zurück mehr gibt.“