Von Hans Heinz Holz

Ich stamme aus einer bürgerlichen Familie. Ich war Universitätsprofessor. Ich wohne in einem Haus im Tessin. Bin ich ein Angehöriger der Arbeiterklasse? Anscheinend doch nicht! Ich bin seit meinem 18. Jahr Kommunist, ich habe seitdem an den Kämpfen der Partei aktiv teilgenommen. Ich habe maßgebend am Programm der DKP und anderen programmatischen Dokumenten mitgearbeitet. Schriften von mir werden von kommunistischen Parteien zu Schulungszwecken verwendet. Gehöre ich zur Arbeiterklasse? Vielleicht doch!

Und Friedrich Engels, ein leibhafter Fabrikant mit Privateigentum an Produktionsmitteln, war einer der ersten Führer des Weltproletariats – einer der konsequentesten, von dem wir heute noch lernen können und müssen.

Begriffsklärungen

So einfach ist es offenbar nicht mit dem Klassenbegriff. Wenn wir an den Weberaufstand und die Pariser Kommune denken, dann ist uns klar, was Arbeiterklasse besagt. Aber das ist lange her. Lohnstreiks in den Betrieben: Ist das Klassenkampf oder bloß noch Trade-Unonism? Hat in den Industriestaaten die Arbeiterklasse den »Aufstieg« ins Kleinbürgertum angetreten, weil sie an kleinbürgerlichen Wohlstandsformen teilhat? So behaupten es jedenfalls bürgerliche Soziologen, Rollen- und Schichtentheoretiker. In der Tat ist ja das Bewußtsein, zum Proletariat zu gehören, vielfach verschwunden. Bestimmt etwa das Bewußtsein das Sein? Der Sozialabbau wird als Schicksal hingenommen; Opfer zu sein, drückt das Selbstbewußtsein, als sei es ein Zeichen eigenen Versagens. Haben die Ausbeuter nicht nur unsere Kassen, sondern auch unsere Köpfe geleert? Begriffsklärung tut not. An der Theorie der Klassengesellschaft und des Klassenkampfs wird gerüttelt, weil das Erscheinungsbild der Arbeiterklasse der überkommenen Vorstellung nicht mehr entspricht. Der Bergarbeiter im 19. Jahrhundert sah anders aus und hatte einen anderen Lebensstil als der Arbeiter heute in der Montage bei VW. Mit der wissenschaftlich-technischen Revolution haben sich die Produktionsmittel verändert und mit ihnen nicht nur der Typ der Tätigkeiten, sondern auch Alltagsgewohnheiten, Kleidung, Bildung. Die Produktionsverhältnisse sind abstrakter geworden, die Herrschaftsausübung indirekter und entpersonalisiert. Die Verkürzung der Arbeitszeit gegenüber dem 19. und frühen 20. Jahrhundert gewährt einen Freizeitspielraum, der von einer aufgeblähten Unterhaltungsindustrie genutzt und besetzt wird; hier werden klassenbedingte Erlebnisdifferenzen in einer fiktiven Phantasiewelt nivelliert, so daß konträre Erfahrungen, die der Arbeitswelt entstammen, nicht mehr als Indizien von Klassengegensätzen wahrgenommen werden.

All diese Klassenmerkmale sind aber dem gesellschaftsanalytischen Sinn des Begriffs Klasse nachgeordnet. Sie kennzeichnen die sich wandelnden Erscheinungsformen der Produktionsverhältnisse, die durch die Art des Eigentums an den Produktionsmitteln und die Weise der Reproduktion des individuellen Lebens und der Gattung bestimmt sind. Die politische Definition der Klasse ist die funktionale, die Lenin im Zusammenhang mit der Fortdauer und Verschärfung des Klassenkampfs nach der Niederwerfung des Kapitals durch die Revolution gegeben hat: »Als Klassen bezeichnet man große Menschengruppen, die sich voneinander unterscheiden nach ihrem Platz in einem geschichtlich bestimmten System der gesellschaftlichen Produktion, nach ihrem (größtenteils in Gesetzen fixierten und formulierten) Verhältnis zu den Produktionsmitteln, nach ihrer Rolle in der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit und folglich nach der Art der Erlangung und der Größe des Anteils am gesellschaftlichen Reichtum, über den sie verfügen. Klassen sind Gruppen von Menschen, von denen die eine sich die Arbeit einer anderen aneignen kann infolge der Verschiedenheit ihres Platzes in einem bestimmten System der gesellschaftlichen Wirtschaft« (»Die große Initiative«, LW 29, 410).

Dieser funktionalen Definition liegt die strukturelle zugrunde, die eigentumsrechtlich festgeschriebene Herrschaft von Menschen über Menschen; des Sklavenhalters über die Person des Sklaven, der sein Besitz ist; des Feudalherrn über die Freizügigkeit des Leibeigenen, über den er physische Gewalt hat; des Unternehmers, der über den Arbeitsertrag des Lohnarbeiters verfügt (Engels, MEW 2, 632). Man sieht, daß mit jeder neuen Gesellschaftsformation sich die Ausbeutungsbeziehung wandelte, aber ihr Wesen, die Aneignung der Arbeitskraft eines »Knechtes« durch einen »Herrn«, gleich blieb. Der polit-ökonomische Klassenbegriff bezieht sich nicht auf die Erscheinungsformen, die das Klassenverhältnis unter bestimmten Produktionsbedingungen, in bestimmten kulturellen Zusammenhängen‚ auf bestimmten historischen Entwicklungsstufen annimmt, sondern ist ein logisch-historisches Allgemeines (Universale), das für alle bisherigen geschichtlichen Organisationsformen menschlichen Zusammenlebens gilt. Engels hat die Überschrift des ersten Kapitels des »Kommunistischen Manifests« – Bourgeois und Proletarier – in diesem Sinne kommentiert: »Unter Bourgeoisie wird die Klasse der modernen Kapitalisten verstanden, die Besitzer der gesellschaftlichen Produktionsmittel sind und Lohnarbeit ausnutzen. Unter Proletariat die Klasse der modernen Lohnarbeiter, die, da sie keine eigenen Produktionsmittel besitzen, darauf angewiesen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, um leben zu können.« (Engels, MEW 4, 462)

Unser europäisches Wort »Proletarier« kommt aus dem Lateinischen, wo »proles« eigentlich »Nachkomme« heißt und erst in einer Bedeutungsverengung anläßlich einer Einteilung der Steuerklassen »proletarius« für die Bürger der untersten Klasse gebraucht wird, weil diese außer ihrer Nachkommenschaft kein Vermögen besitzen. In China, wo es diesen Begriff nicht gab, übersetzte man korrekt gemäß der Engelsschen Definition wu-chan jie—ji »produktionsmittellose Klasse«, wobei der Klassenbegriff keine Unterordnung, sondern eine Stelle in einem Ordnungssystem meint.

Klassenbewußtsein

Die aus der Eigentumsform abgeleitete strukturelle Klassendefinition sagt aus, was objektiv eine Klasse ausmacht und wer zu ihr gehört. Offenbar reichen die objektiven Merkmale der Klassenzugehörigkeit aber nicht aus, um eine Klasse zum historischen Subjekt werden zu lassen. Eine Gruppe ist als ganze und in einem sie verbindenden allgemeinen Interesse handlungsfähig, wenn jeder der in ihr vereinten Menschen die Gemeinsamkeit mit dem anderen erkennt und anerkennt und mithin mit ihnen zu handeln bereit ist. Die Einheit der Individuen im Kollektiv ist notwendige Bedingung dafür, daß die objektive, durch die Struktur der Produktionsverhältnisse (bzw. der Gesellschaft) gegebene Existenz der Klasse »an sich« im Selbstbewußtsein des einzelnen für ihn zutreffend akzeptiert und damit in der Gemeinschaft als Klasse »für sich« zum korporativ handelnden Subjekt und damit erst zur »Klasse« im eigentlichen Sinne wird. Das besagt der Terminus »Klassenbewußtsein«. Zum unverkürzten Begriff der Klasse gehört das Klassenbewußtsein dazu, das heißt die Erkenntnis der Klassenmerkmale, der Klassenzugehörigkeit, der Klassenlage, der klassenbedingten Stellung und Konflikte des einzelnen. Das sind aber keine spontaner Erfahrung entspringende Einsichten, sondern Erkenntnisse, die ein methodisch diszipliniertes Studium der theoretischen Grundlagen der Gesellschaft erfordern. Diese theoretische Reflexion führt gerade über den jeweiligen Fall hinaus, an dem sich die Mängel des Kapitalismus zeigen, und legt die allgemeine Verfassung des Gesellschaftsverhältnisses frei, von der auch jene betroffen sind, die mit dem kritisch betrachteten »Fall« gerade nichts zu tun haben. Klassenbewußtsein bedeutet die Aneignung der Grundzüge und Erklärungsmuster der revolutionären Theorie, nicht allein die Fixierung auf die Durchsetzung unmittelbarer Interessen der Ausgebeuteten gegen die Ausbeuter. Hierzu ist es nützlich, sich nachhaltig der Ausführungen Lenins zu erinnern!

»Ohne revolutionäre Theorie kann es auch keine revolutionäre Bewegung geben. Dieser Gedanke kann nicht genügend betont werden in einer Zeit, in der die zur Mode gewordene Predigt des Opportunismus sich mit der Begeisterung für die engsten Formen der praktischen Tätigkeit paart«, schreibt Lenin und fährt fort: »Jetzt möchten wir nur darauf hinweisen, daß die Rolle des Vorkämpfers nur eine Partei erfüllen kann, die von einer fortgeschrittenen Theorie geleitet wird (…) Engels spricht nicht von zwei Formen des großen Kampfes der Sozialdemokratie (dem politischen und dem ökonomischen) – wie das bei uns üblich ist –‚ sondern von drei, indem er neben diese auch den theoretischen Kampf stellt (…) Die Geschichte aller Länder zeugt davon, daß die Arbeiterklasse ausschließlich aus eigener Kraft nur ein trade-unionistisches Bewußtsein hervorzubringen vermag (…) Die Lehre des Sozialismus ist hingegen aus den philosophischen, historischen und ökonomischen Theorien hervorgegangen, die von den gebildeten Vertretern der besitzenden Klassen, der Intelligenz, ausgearbeitet wurden.«

Spontan erwacht das Klassenbewußtsein im Kampf um die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen. Aber es endet dann auch spontan bei Reformen, die eine Verbesserung bringen oder zu bringen scheinen. Daß die Übel des Systems nicht durch punktuelle Reformen am System zu beheben sind, weil sie eben der Systemstruktur entspringen, und daß also nur ein revolutionärer Umsturz des Systems die Ursachen der Mißtände beseitigt, ist ohne ein theoretisch ausgearbeitetes Bewußtsein von den gesellschaftlichen Verhältnissen nicht zu durchschauen; umso weniger, je komplexer und anonymer die gesellchaftlichen Prozesse geworden sind. Darum hat Lenin schon 1905 eingeschärft:

»Es wurde verkündet, daß die ›ökonomische Grundlage der Bewegung verdunkelt werde durch das Bestreben, stets an das politische Ideal zu denken‹ (…) Das bedeutete die vollständige Unterdrückung der Bewußtheit durch die Spontaneität. (…) Darum besteht unsere Aufgabe (…) darin, die Arbeiterbewegung von dem spontanen Streben des Trade-Unionismus, sich unter die Fittiche der Bourgeoisie zu begeben, abzubringen. (…) Warum aber (…) führt die spontane Bewegung, die Bewegung in der Richtung des geringsten Widerstands gerade zur Herrschaft der bürgerlichen Ideologie? Aus dem einfachen Grunde, weil die bürgerliche Ideologie ihrer Herkunft nach viel älter als die sozialistische, weil sie vielseitiger entwickelt ist, weil sie über unvergleichlich mehr Mittel der Verbreitung verfügt« (alle Zitate aus »Was tun?«, LW 5, 379–397).

Je abstrakter und komplexer die Vernetzungen und Abhängigkeiten in einer arbeitsteilig produzierenden Gesellschaft werden, umso weniger Anlässe gibt es, in denen sich aus unmittelbaren Erfahrungen von Klassengegensätzen spontan Klassenbewußtsein bildet. Theoretische Verallgemeinerungen sind nötig, um das gemeinsame Klasseninteresse zu erkennen, auch wenn vielleicht individuelle oder Teilgruppeninteressen davon abweichen. Ohnehin sind in der Wirklichkeit nie zwei Fälle genau gleich; das anzunehmen, ist eine klassifikatorische Fiktion. Es müssen verschiedene Situationen und Vorgänge analog begriffen werden (wie schon Engels für die Dialektik forderte), damit sie sich als Momente ein und desselben Musters erweisen. Dazu ist Voraussetzung, Wesentliches und Unwesentliches zu unterscheiden, in der Erscheinung das Wesen zu erfassen und herauszuschälen.

Dem stehen oft unmittelbare Erfahrungen und Vorurteile entgegen. Die Hierarchisierung der arbeitsteilig produzierenden Gesellschaft zersprengt das Klassenbewußtsein. Der Abteilungsleiter in einem Konzern, obwohl auch er kein Eigentum an Produktionsmitteln hat, wird sich nicht gern zum Proletariat zählen. Der Intellektuelle, von der herrschenden Klasse in Dienst genommen, um ihr das Wissen und die Methode zu liefern, die Herrschaft auszuüben, technischen Fortschritt in Gang zu halten und Kenntnisse zu vermitteln, wird durch Prestige und Privilegien an das bestehende System gebunden. Wer aus einer Tätigkeit in spezialisierten Funktionen Vorteile zieht (oder zu ziehen meint), ist der Gefahr ausgesetzt, einer illusionären Identifikation mit dem bestehenden Herrschaftssystem zu verfallen. Das Sozialgefälle innerhalb der Arbeiterklasse ist das größte Hindernis für die spontane Ausbildung von Klassenbewußtsein, das sich dann theoretisch weiterbilden könnte. Die »Organisation der Proletarier zur Klasse, und damit zur politischen Partei, wird jeden Augenblick wieder gesprengt durch die Konkurrenz unter den Arbeitern selbst. Aber sie ersteht immer wieder, stärker, fester, mächtiger. Sie erzwingt die Anerkennung einzelner Interessen der Arbeiter in Gesetzesform, indem sie die Spaltungen der Bourgeoisie unter sich benutzt« (Marx/Engels, Manifest, MEW 4, 471). Natürlich sehen viele, die der Arbeiterklasse entfremdet sind, die Notwendigkeit von Gesellschaftsveränderungen ein – zumal heute, wo neben dem sozial-ökonomischen Verfall der bürgerlichen Ordnung auch noch die ökologischen Mißstände und die Friedensfrage nicht mehr verdrängt werden können. Integriert in den geltenden Regelmechanismus, glauben sie aber, das Übel mit Reformen beheben und so den eigenen Status erhalten zu können. Nur eine schonungslose kritische Analyse, die über den einzelnen Beschwerdeanlaß hinausreicht und das Systemganze in den Blick nimmt, kann diesen reformistischen Schutzpanzer der Angepaßten durchbrechen. Die Erfahrung aber, die dahin führt, bildet sich im Klassenkampf.

Klassenkampf

Der Klassenkampf ist die Situation, in der die Klasse an sich zur Klasse für sich wird. Situationen des Klassenkampfs entstehen in den meisten Fällen zunächst spontan; Lohnforderungen, Erhaltung von Arbeitsplätzen, Regelung der Arbeitszeit, Risikosicherung, Altersvorsorge sind Konfliktstoffe, an denen sich zeigt, daß die Lebensinteressen des Arbeiters und die Profitinteressen des Kapitalisten einander entgegengesetzt sind und die Entscheidung zwischen ihnen eine Machtfrage ist, die in einem Kompromiß ihre zeitweilige Lösung findet. Auf dieser (gewerkschaftlichen) Ebene werden sie noch gleichsam privatrechtlich ausgetragen; dem entspricht, trügerisch ins Positive gewendet, die Ideologie von der »Sozialpartnerschaft« – mit der irreführenden, weil den Widerspruch verschleiernden Metapher »Wir sitzen doch alle in demselben Boot«. Ja, wir sitzen alle im Boot der kapitalistischen Gesellschaft, aber die einen als Galeerensklaven an den Rudern, die anderen als Reeder und Kapitän in der Kajüte.

Daß das eigene Wohlergehen eng mit dem Wohlergehen aller verknüpft ist und davon abhängt, wird dann schon eher in der Kommunalpolitik erfahrbar. Die Erhaltung eines öffentlichen Wohnungsangebots, das vom Profit der Hauseigentümer abgelöst ist, die Einrichtung von Kindergärten und Tagesschulen, die Versorgung mit öffentlichen Dienstleistungen in den Bereichen Sport, Bildung, Erholung und Unterhaltung, die Bereitstellung der Infrastruktur in Verkehr und Kommunikation, Gesundheitswesen, Ausbildungsstätten – das sind Gemeinschaftsaufgaben, die nur von den Bürgern gemeinsam bewältigt werden können; entgegenstehende Kapitalinteressen sind auch als strukturelle des Systems, nicht nur als lokale Fälle, kenntlich zu machen. Auf dieser Ebene tritt der Klassenantagonismus für den einzelnen noch in sinnlich erfahrbarer Unmittelbarkeit hervor. Es wird sichtbar, daß das Bewegungsgesetz des Kapitalismus, die Akkumulation des Kapitals, zu menschenfeindlichen Konsequenzen führt. Und man erlebt, daß die Solidarität der Betroffenen eine politische Kraft ist. Wer scharf denkt, dem eröffnet sich schon hier die revolutionäre Perspektive des Klassenkampfs.

Aber gesamtgesellschaftlich relevant wird die Klassenfrage letzten Endes doch erst auf der Ebene des Staates – und darüber hinaus auf der der internationalen Beziehungen. Und hier beginnt die Schwierigkeit, die vielen gegenläufigen und widersprüchlichen Vorgänge, die jeweils andere Ursachen und Verlaufsformen zu haben scheinen, als Ausdruck der Klassenverhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft systematisch aus einem Gesichtspunkt zu begreifen. Haupt- und Nebentendenzen und verschiedene Wesensschichten sind zu unterscheiden. Zum Beispiel geht es im Nahen Osten seit dem Ersten Weltkrieg bei allen Konflikten um das Erdöl, der vorrangigen Energiequelle in der gegenwärtigen Phase des Industriezeitalters. Das heißt aber nicht, daß die religiösen Gegensätze oder die ethnischen und nationalen Feindschaften nur nebensächliche Erscheinungen wären. Die Religion spielt eine zentrale Rolle im Bewußtsein der Mehrheit der Menschen dort; die nationale Frage ist eine solche der kulturellen Identität. Beide Problembereiche sind dicht verwoben mit dem Kampf gegen die koloniale Ausbeutung, in dem nun wieder der Klassencharakter der internationalen Beziehungen deutlich wird. Die polit-ökonomische, die Klassenfrage einschließende Analyse muß mit vieldeutigen multifaktoriellen Ursachenkomplexen rechnen.

Der Weltmarkt ist, wie Marx bereits vor 150 Jahren feststellte, der Mechanismus, der die Vielheit der Gesellschaften, Kulturen, Staaten und Staatengemeinschaften zu einer globalen Einheit verknüpft. Er funktioniert, jedenfalls heute noch, nach den Gesetzen des Kapitalismus – selbst als es die andere Wirtschafts- und Gesellschaftsform des sozialistischen Lagers gab; und auch wenn es heute den Widerstand und die Verselbständigungstendenzen nationaler Bourgeoisien gegen die Hegemonie der Metropolen gibt. Jede Bewegung, die die Auswirkungen des Kapitalismus bekämpft, muß notwendig international sein – und das heißt internationalistisch im Bewußtsein der Solidarität der Ausgebeuteten in welcher Form auch immer sie ausgebeutet werden – gegen die globale Einheit des Kapitalverwertungsprozesses. Das ist die allgemeinste Ebene des Klassenkampfs, und es darf kein Schwanken in den Fronten geben, wenn auch Widersprüche zwischen den Ausgebeuteten auftauchen. Die Herrschenden bedienen sich dieser Widersprüche durch Ideologisierung: Intoleranz der Religionen, Formalisierung der Menschenrechte, Vorurteile gegen ethnisch-kulturelle Andersheit. Wer sich vom Gespenst Al Qaida ins Bockshorn jagen läßt, ist der Ideologie der Herrschenden schon auf den Leim gegangen und hat sich vom tatsächlichen globalen Konflikt ablenken lassen. Die Angst vor dem sogenannten Terrorismus soll das kritische Urteil verwirren, das den Zusammenhang der verschiedenen Erscheinungsformen von Befreiungskämpfen und Rebellionen klarstellt. Dagegen ist das »Kommunistische Manifest« zu erinnern: »Die Kommunisten unterstützen überall jede revolutionäre Bewegung gegen die bestehenden gesellschaftlichen und politischen Zustände« (MEW 4, 493).

Im Klassenkampf manifestiert sich die Klasse an sich, »in der das Proletariat im Kampfe gegen die Bourgeoisie sich notwendig vereint« (MEW 4, 482). Zur Klasse für sich wird sie in einem Reflexionsverhältnis, in der Erkenntnis ihrer selbst als Klasse und nicht nur als Kampfgemeinschaft. Reflexion hebt die Unmittelbarkeit des Protestes, den Widerstand »aus dem Bauch«, auf das Niveau des allgemeinen Begriffs vom menschenfeindlichen und selbstzerstörerischen Wesen des Kapitalismus und der Notwendigkeit seiner revolutionären Überwindung, auf das Niveau des Widerstands »aus Kopf und Bauch«. Die Denkmittel zu dieser Reflexion liefert der historische Materialismus. Er ist das theoretische Medium, in dem die Klasse an sich zur Klasse für sich wird. Das praktische Medium, in dem sich die Klasse für sich als politische Wirklichkeit formiert, ist die Organisation, in der sich die Selbsterkenntnis im gemeinschaftlichen Handeln und gegenseitiger Kritik der Einzelnen bildet: die Partei. Nur organisiert gibt es Klassenkampf, nur parteilich ein revolutionäres Ziel.

Hans Heinz Holz promovierte bei Ernst Bloch und lehrte in Marburg und Groningen (Niederlande) Philosophie. Er ist Mitverfasser des aktuellen Programms der DKP und Mitherausgeber der Theoriezeitschriften Topos und T&P (Theorie und Praxis)

Gelesen in: junge Welt vom 10. Jänner 2008

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