Mit seinem Verweis auf die „weit zurückreichenden Wurzeln“ des Anschlusses, der „nicht wie ein Blitz aus heiterem Himmel“ zustande gekommen sei, hat Bundespräsident Heinz Fischer in der heurigen Gedenksitzung des Parlaments gewissermaßen am Gedenk-Konsens der Republik gekratzt. Sein Hinweis blieb allerdings eine Wetterleuchte, da diese Wurzeln im Rahmen des öffentlichen Diskurses weithin im Dunkeln blieben. Ein Versuch, zu einer Aufhellung beizutragen.

Für eine offene Auseinandersetzung mit den dem Anschluss vorangegangenen Ereignissen, wie sie von Fischer gefordert wurde, scheinen mir folgende drei Stränge wesentlich:

1. Nationale Identität

Nie wurde Österreichs staatliche Souveränität während der Ersten Republik von offizieller Seite so deutlich reklamiert, wie von den christlichsozialen Regierungen nach 1932. Gleichzeitig war die Österreich-Ideologie des Austrofaschismus  aber eine deutschnationale im Sinne einer Einbeziehung Österreichs in eine deutsche Nation. Gemäß der Verfassung vom 1. Mai 1934 war Österreich ein „christlicher, deutscher Bundesstaat“. Bundeskanzler Dollfuß sah Österreich als einen der „edelsten Stämme im deutschen Gesamtvolke“. In dieser Vorstellung kommt nicht nur eine religiöse christliche Sendung der ÖsterreicherInnen als die ‚besseren Deutschen‘ zum Ausdruck, sondern auch der viel weltlichere Anspruch, eine führende Rolle in der Neuordnung des Donauraumes zu übernehmen . Dabei konnte einerseits an einer geschichtlichen Tradition als „Bollwerk gegen Barbarei und Islam“ sowie als Brücke einer „deutschen“ Dominanz im (Süd-)Osten Europas (vgl. Suppanz, 2004) angeknüpft werden. Ähnliche deutsche Hegemonialansprüche wurden im Umkreis von deutschen RevisionistInnen bereits vor der Machtübertragung an die NSDAP 1933 geschmiedet und mündeten in Bemühungen, einen autarken mittel- und südosteuropäischen Wirtschaftsraum zu schaffen .

Der Nationalsozialismus konnte daher später ohne weiteres bei einem national-völkischen Deutschtum ebenso anknüpfen wie bei der Konzeption Österreichs als räumliches Vorfeld zur Eroberung Osteuropas .

Während die österreichischen KommunistInnen der Auffassung entgegentraten, dass das österreichische Volk ein Teil der deutschen Nation ist , und eine nationalösterreichische Konzeption zur Verbündung von ArbeiterInnenbewegung und Bürgerlichen gegen eine drohende nationalsozialistische Okkupation entwarfen , leugnete die weit einflussreichere Sozialdemokratische Partei die Existenz einer eigenen österreichischen Nationalität . Sie verfiel ihrem charakteristischen Widerspruch zwischen revolutionärer Programmatik und Verkennung der dringlichsten Aufgaben der politischen Wirklichkeit, indem sie „weiterhin die Idee einer gesamtdeutschen, später einer europäischen Revolution gegen den Nationalsozialismus“ propagierte .

Dieser fehlende Nationalkonsens erleichterte nicht nur die Infiltration durch die NationalsozialistInnen, weil diese einen ‚großdeutschen’ Gestus kopierte , sondern überdauerte auch deren Herrschaft: Der den österreichischen Rechtsextremismus prägende Nationalismus bezog sich auch nach 1945 nicht auf Österreich, sondern war deutsch orientiert , während der offiziell staatliche Rückgriff auf die österreichische Nation durchaus in bewusster Abgrenzung zu diesem passierte .

2. Austrofaschistische Diktatur

Als noch bedeutender als die ideologische Haltung der austrofaschistischen Diktatur zur österreichischen Nation muss ihre autoritäre politische Herrschaft angesehen werden. Dienten die auf Ausschaltung der politischen Opposition abzielenden Maßnahmen vordergründig der eigenen Herrschaftssicherung , so bestand die mittelfristige Konsequenz in der Zerschlagung der selbständigen ArbeiterInnenbewegung auch in der Liquidierung jener Kräfte, die am ehesten bereit gewesen wären, dem „Anschluss“ konsequenten Widerstand entgegenzusetzen.

3. Faschistische Unterwanderung

Auf der anderen Seite gelang es der Diktatur aber nicht, die illegalisierte Nazi-Opposition effektiv in Schach zu halten. Die NSDAP stellte im Austrofaschismus einen derart bedeutenden Faktor dar, dass eine Analyse desselben „ohne Berücksichtigung der Rolle der illegalen NSDAP nicht möglich ist“. Ihre Bedeutung ist zum Teil daran ersichtlich, dass sie in den Jahren 1932/33 etwa 20 bis 25 Prozent der Wählerschaft für sich mobilisieren konnte .

Obwohl unter ihren AnhängerInnen ab 1933/34 keine größere soziale Gruppe mehr unterrepräsentiert war, muss der nationalsozialistischen Unterwanderung der Exekutive besonderes Augenmerk geschenkt werden. So entstand etwa im Juli 1933 der Masterplan zum NS-Juliputsch in nationalsozialistischen Kreisen der Wiener Polizei . Auch waren fast alle späteren Wiener Gestapomänner bereits vor dem „Anschluss“ Polizisten – nur 2,3 Prozent der Gestapo-Leute kamen 1938 als “Quereinsteiger” zur braunen Geheimpolizei. Fast die Hälfte der Polizisten war vor 1938 bereits Mitglied der NSDAP , was zeigt, wie stark der austrofaschistische Ständestaat von Nazis unterwandert war. Das Ausmaß der am Juliputsch 1934 teilnehmenden Personen sowie die Tatsache, dass infolge des am 11. Juli 1936 zwischen Hitler und Schusschnigg geschlossenen Juliabkommens bis Herbst desselben Jahres 18.684 (!) inhaftierte Nationalsozialisten freikamen  sind weitere Tatsachen, die vor Augen führen, „dass der Nationalsozialismus nicht eine Ideologie war, die von einigen wenigen ‚Verführern’ vertreten wurde, sondern bereits um 1934 … mitten in der Gesellschaft angekommen war“ .

„Anschluss“

Auch wenn mittlerweile jene Bilder unsere Vorstellungen vom „Anschluss“ prägen, in denen österreichische Menschenmassen deutsche Truppen bejubeln, kann der „Anschluss“ also nicht lediglich als Einmarsch deutscher Truppen am 12. März 1938 in Österreich gesehen werden. Im Zusammenhang damit muss auch die innere Machtergreifung der österreichischen NationalsozialistInnen am 11./12. März berücksichtigt werden. Das heißt folglich, die Entwicklung der österreichischen NSDAP und ihres sozialen, politischen wie ideologischen Umfeldes vor März 1938 mitzudenken.

In weiterer Perspektive umfasst der Begriff des „Anschlusses“ auch den Prozess der verwaltungsmäßigen Eingliederung Österreichs ins Deutsche Reich, in dem das ‚Bundesverfassungsgesetz über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich’ vom 13. März sowie die Volksabstimmung am 10. April 1938 wichtige Eckpunkte bilden . Dieser Prozess wiederum sollte sich nicht nur für die institutionelle Neuordnung des österreichischen politischen Systems („Polity“), sondern auch für die prozessuale Dimension nationalsozialistischer Herrschaft („Politics“), insbesondere ihre „Judenpolitik“, als einschneidend erweisen. Doch das ist (k)eine andere Geschichte.

Konstantin Wacker studiert Volkswirtschaft
und leistet derzeit Gedenkdienst.

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