Als Erich Honecker dem Widerstandskämpfer und Antifaschisten Peter Gingold kurz nach dem 2. Weltkrieg anbot, in Berlin die Gewerkschaftssektion der FDJ aufzubauen, lehnte dieser ab. Jetzt war „ich 29 Jahre alt und wolle kein ‘Berufsjugendlicher’ werden.“, schrieb das langjährige DKP-Mitglied in seine Autobiographie. Gingold kehrte nach Frankfurt am Main zurück und wurde aufgrund seiner Weltanschauung in seiner Heimat erneut zum Verfolgten. Nichtsdestotrotz lag ihm die Jugend, mit der er bis zu seinem Tode Seite an Seite gegen Unterdrückung und Faschismus kämpfte, besonders am Herzen. Honecker blieb in Berlin.

Kein Theater

Was würde Gingold wohl denken, wenn er das schmucke Tagungszentrum „Voz do Operário“ sehen könnte? Während es draußen fast durchgehend regnet, tagen in diesem alten und großen Bau irgendwo in Lissabons engen Gassen bis Sonntag Jugendliche und auch ältere Semester aus aller Welt. Sie begehen die 18. Generalversammlung des Weltbunds der demokratischen Jugend (WBDJ), dem globalen Dachverband etwa der SDAJ und der Kommunistischen Jugend Österreichs (KJÖ). Gastgeber ist logischerweise die Kommunistische Jugend Portugals (JCP), welche momentan den Vorsitz des Verbands inne hat.

Insgesamt nehmen 86 Organisationen an der Konferenz teil, 200 Delegierte füllen den Raum im altehrwürdigen Gebäude einer Arbeiterhilfsvereinigung. Der sonst als Theatersaal genutzte Raum wird vom Logo des WBDJ dominiert, welches hinter dem Podium auf der Bühne prangt. Reich verzierter Stuck entspringt einer Satyrsfratze darüber, die aus ihr quellenden Ähren rahmen die gesamte Bühne ein. Der ganze Wandschmuck wirkt tonnenschwer, sodass sich mensch fürchten könnte, im Falle eines Falles würde er das Präsidium unter sich begraben.

Alle Beiträge werden simultan übersetzt. Die Arbeitssprachen sind Englisch, Französisch, Portugiesisch und Spanisch. Die koreanische Delegation ist adrett gekleidet, einer von ihnen erinnert ob seiner Größe und seines beigen Trenchcoats an Inspektor Columbo. Viele afrikanische Organisationen sind zugegen, so aus Mosambik und Eritrea. Während einer Kaffeepause verteilt ein Palästinenser Schals mit seinen Nationalfarben, auf denen für die Aufnahme des Mittelmeerlandes in die UNO geworben wird. Die JCP fällt durch ihre exzellente Organisation, ihre (für deutschsprachige Gäste ungewohnt) hohe Dichte an weiblichen Kadern und solidarische Fürsorge für alle Delegationen auf. „Alles okay? Kontaktiert uns, was immer ich auch braucht.“, hört man mindestens fünf mal innerhalb der ersten 24 Stunden.

Illustre Delegationen

Unter einem antiimperialistischen Motto gilt es, in dieser Woche einen neuen WBDJ-Vorstand zu wählen, der vermutlich an die zypriotische EDON gehen wird. Weiters wird die politische Linie der nächsten Jahre bestimmt und über die Mitgliedschaften verschiedener Organisationen entschieden werden. So stehen zwei marokkanische Verbände zur Diskussion, die sehr fragwürdige Positionen zur Besatzung in der Westsahara haben dürften. Schließlich hielt sich ihr Protest in Grenzen, als Tiago Vieira, Noch-WBDJ-Chef, vor einem Jahr von den marokkanischen Behörden noch im Flugzeug festgenommen und schikaniert wurde. Vieiras Pass wurde vorübergehend konfisziert. Danach steckte man ihn in Casablanca 15 Stunden in eine kalte Zelle ohne Bett oder Pritsche. Vieira hatte die Westsahara besuchen wollen, um sich ein Bild von den Zuständen unter der Besatzung zu machen. Marokko schob den portugiesischen Jungfunktionär in sein Heimatland ab. Es dürfte zu einer hitzigen Debatte kommen, welcher mit dem Ausschluss dieser Organisationen enden kann, so sich Mehrheiten dafür finden.

Auch mit solchen Entscheidungen will der WBDJ sein antiimperialistisches Profil schärfen und festigen. Dafür hat ein Vorbereitungskomitee einige weitgehende politische Resolutionen verfasst. Der Deligierte aus Serbien kritisiert in seinem Redebeitrag, dass „Palästina nicht der einzige besetzte Staat“ der Welt sei. Er verweist auf die durch die NATO forcierte Zersplitterung und Besetzung diverser ex-jugoslawischer Länder. Der britische Deligierte erzählt am Rande, dass auch Nordirland in diese Reihe gehöre. Grundsätzlich betonen alle Sprecherinnen und Sprecher die Qualität der vorliegenden Dokumente. Vieira schreitet in die Diskussion ein: wenn es keine grundsätzlichen Probleme mit den vorliegenden Entwürfen gebe, sollten die Anwesenden sich bitte an das Prozedere halten. Inhaltliche Debatten, Änderungsvorschläge „wie die zu Palästina gehören in die morgige Tagung. Heute geht es vor allem um organisatorische Fragen.“

Die Jugendorganisation der Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas, JPSUV, müsste ohne große Diskussionen aufgenommen werden. Deren Gesandter ist aus der Ferne leicht mit Hugo Chavez zu verwechseln. Er trägt dieselbe gelb-blau-rote Trainingsjacke wie der bolivarische Comandante. Sie spannt ein bisschen über dem Bauch.

Streik? Nicht im Sitzungssaal

Die versammelten Delegierten (von denen einige nur dem Funktionärsstatus nach „jugendlich“ sind) arbeiten bereits am ersten Tag konzentriert mit. Niemand mault. Leute, die ein Nickerchen halten, werden von ihren Genossen wachgestupst. Nur eine trotzkistische Neuseeländerin schläft weiter. Ob sich ihre Delegation auf dem langen Weg nach Europa gespalten hat?

Es ist früh am Nachmittag, sagt die Uhr. Draußen vor der Tür regnet es wie zuvor, Tag und Abend verschwimmen zu einer zementfarbenen, nasskalten Masse. Gen Ende dieser technisch geprägten Sitzung teilt eine JCP-Genossin auf dem Podium mit, dass sich „100 Prozent“ der Belegschaft der Lissaboner Verkehrsbetriebe im Streik befinden. Auch in Porto sind die Arbeiter und Fahrer fast vollständig im Ausstand. Da es sich um einen partiellen Streik handelt, haben die Fährbetriebe in der Bucht erst vor kurzem ihren Arbeitskampf begonnen. Nichts schwimmt oder fährt mehr im Großraum Lisboa. Die Versammlung applaudiert den Streikenden begeistert. Breite, zufriedene Grinser erhellen diesen nebligen Tag.