In praktisch jedem demokratischen Land wird nach und nach bekannt, in welchem Ausmaß VertreterInnen der katholischen Kirche Kindern über Jahrzehnte sexuelle, körperliche und psychische Gewalt angetan haben. Schuldeingeständnisse kommen nur zögerlich – und ganz oben scheint verhindert zu werden, dass wirksame Maßnahmen gegen sexualisierte Gewalt getroffen werden. Auch die Mitverantwortung der jeweiligen Staaten wird nicht einmal ansatzweise analysiert.

Man könnte es sich einfach machen. Man könnte auf der Welle der moralischen Empörung mitschwimmen. Die katholische Kirche hat in den vergangenen Jahrzehnten gezeigt, dass sie nicht imstande ist, eine moralische Autorität zu sein. Vermutlich waren es sogar Jahrhunderte. Aber diese Opfer leben nicht mehr, können ihr Leiden nicht mehr bezeugen. Auch die aktuellen Reaktionen sind alles andere als beispielgebende Moral. Die Kirche reagiert wie jede andere Organisation auch, in der derartige Skandale bekannt werden. Einige, normalerweise die weiter unten in der Hierarchie, preschen vor, unterstützt von einigen wenigen weiter oben. Die Spitze bremst. Vermeidet es, öffentlich die Schmach einzugestehen, versucht vielleicht, diskret, intern zu agieren. Betreibt Schadensbegrenzung, nicht Problemlösung. Ein Moralist würde hier zu denken aufhören. Und würde nichts zu einer Analyse beziehungsweise einer Lösung beitragen. Das wäre um nichts besser als das, was die päpstlichen Schadensbegrenzer tun.
Die katholische Kirche verhält sich nicht anders als ein Konzern in vergleichbarer Situation. Hat sich über Jahrzehnte nicht anders verhalten. Wegschauen, so lange es geht. Wenn es nicht mehr geht, vertuschen. Wenn das nichts mehr nützt, diffamiert man die Opfer und stellt sicher, dass sie schweigen. Bei traumatisierten Kindern und deren vermutlich kaum weniger traumatisierten Eltern keine allzu schwere Übung. Und nach Möglichkeit versichere man sich einer willfährigen Politik und willfähriger Behörden. Nicht nur um zu vertuschen – sondern auch um sicherzustellen, dass das muntere Spiel weitergehen kann. Willfährige Beamte gingen Berichten über Kindesmisshandlungen in Ordenseinrichtungen schlicht nicht nach, übernahmen KritikerInnen nicht in den öffentlichen Dienst etwa bei der Kinderbetreuung, und stellten sicher, dass der Kirche weiter Kinder zur Betreuung zugeschanzt wurden. In Deutschland, Irland, Österreich, Italien. Um nur einige Länder zu nennen.


In den vier genannten zahlte der Staat zusätzlich dafür, dass sich die Kirche der Kinder annahm. Wahrscheinlich in vielen Fällen im Bewusstsein, dass Kindern in den kirchlichen Einrichtungen Gewalt angetan wurde. Man fand wenig dabei. Zucht und Ordnung musste sein, und manchmal ging es halt zu weit. Aber das sollte die Kirche regeln.
Schlampige Verhältnisse in republikanischen Ländern. Die Politik lag und liegt gerne im Bett mit der Kirche. Es ist bequemer so. Man muss etwa keine neuen Schulen bauen – die Kirche betreibt sie ohnehin. In Österreich gibt es bis heute Bezirke, wo die katholische Kirche die einzigen Schulen mit Oberstufenbetrieb leitet, zumindest im AHS-Bereich. Und in Vorarlberg etwa war es über Jahrzehnte schwierig, Schulen mit Nachmittagsbetreuung zu finden, die nicht von der katholischen Kirche betrieben wurden. Wer arbeiten wollte, musste das Kind in eine konfessionelle Privatschule geben. Die Personalkosten übernahm und übernimmt bis heute die Republik Österreich. Zu 100 Prozent. Das kostet gut und gern 500 Millionen Euro jährlich. Polemisch formuliert könnte man sagen, die Republik hat über Jahrzehnte Kinderschänder und Kindesmisshandler bezahlt. Und weggeschaut. Es war bequemer so.
Das waren und sind nicht die einzigen finanziellen Zuwendungen. Der konfessionelle Religionsunterricht kostet die Republik jährlich 600 Millionen Euro. Mitspracherechte hat sie keine. Im aktuellen Skandal scheint der Teil vernachlässigbar zu sein. Andererseits: Wo lernen Kinder am besten, dass der Herr Pfarrer eine Respektsperson ist und die Beichte, aus Kindessicht ein Akt totaler Unterwerfung unter einen Fremden, etwas Gutes? Wo sonst werden Kinder so intensiv mit dem Weltbild der katholischen Kirche vertraut gemacht, das mitverantwortlich ist für eine Kultur der körperlichen, seelischen und sexuellen Gewalt, in- wie außerhalb der Kirche?


Natürlich werden Kinder zumeist außerhalb kirchlicher oder kirchennaher Einrichtungen Opfer von Gewalt. Nur ist auch davon die katholische Kirche als vermutlich mächtigste ideologische Einrichtung in diesem Land nicht ganz freizusprechen. Doppelmoral, ein patriarchales Weltbild, das Unterordnung verlangt statt Selbstständigkeit, das Tabu über Sexualität auch nur zu sprechen, Frauenfeindlichkeit – das ist bis heute am stärksten dort ausgeprägt, wo die katholische Kirche am mächtigsten ist (wenn auch nicht ausschließlich dort). Natürlich im Wechselspiel. Reaktionäre Ideologie und Machtstellung der Kirche bedingen einander und schaukeln einander hoch. Zumal, wenn die Politik von „Werten“ spricht und von „christlichen Wurzeln“.


Wer Kinder vor Gewalt schützen will, sollte sich nicht begnügen moralische Empörung zur Schau zu stellen. Wer Kinder vor Gewalt schützen will, muss gegen diese schlampigen Verhältnisse vorgehen, muss danach drängen, dass dieser Skandal restlos aufgeklärt wird. Von unabhängigen Stellen, nicht von kirchennahen. Verantwortung müssen alle übernehmen, die mitgemacht oder weggeschaut haben. Auch der Staat. Die einzig mögliche Konsequenz ist eine politische und wirtschaftliche Entflechtung von Staat und Religion. Keine 1,5 Milliarden Euro jährlich mehr für Religionsgemeinschaften. Keine Sonderstellung mehr für religionsnahe Sozialeinrichtungen, die die Aufgaben übernehmen, von denen sich der Staat zurückgezogen hat. Das widerspricht nicht nur dem Prinzip der Laizität – es schafft nur wieder Abhängigkeiten gegenüber Institutionen, deren Fähigkeit, Wehrlose zu beschützen man bezweifeln darf. Und keine Mitspracherechte mehr bei der Kindererziehung. Kein Religionsunterricht mehr und keine öffentlich geförderten konfessionellen Privatschulen. Was dort passiert ist, ist mit Demokratie und Menschenrechten nicht vereinbar. Ein Staat, der das unterstützt, macht sich zum Mittäter.

Christoph Baumgarten ist stellvertretender Vorsitzender des Freidenkerbunds und leitet die Zeitschrift freidenkerIn.

Der Artikel erschien als Gastkommentar in der ROCROWD – Zeitung des KSV Graz