Ende 2005 veröffentlichte Ocean Press (Melbourne) in Buchform ein Gespräch, das Aleida Guevara, Tochter Che Guevaras und eine bekannte Globalisierungskritikerin, mit dem venezolanischen Staatspräsidenten Hugo Chávez geführt hat (Chávez – Un hombre que anda por ahí, una entrevista con Aleida Guevara, Melbourne, New York, Habana, 2005, 145 S.). In dem Band, der bislang nicht auf Deutsch vorliegt, entwickelt Chávez seine Vorstellungen von der bolivarischen Revolution und einem geeinten Lateinamerika. jW veröffentlicht die ersten beiden Kapitel des Buches (S. 9 – 19).
Die Notwendigkeit eines neuen Venezuela ergibt sich aus einer Realität, die man nur als grauenhaft und empörend bezeichnen kann. Diese Notwendigkeit entsteht aus vielen Gründen, vor allem aus einem Prozeß des Heranreifens der entscheidenden Bedingungen, von denen die wichtigste das Bewußtsein ist. Dabei spreche ich nicht nur für mich, sondern für das ganze Volk.
Von meinem persönlichen Standpunkt aus erwähne ich, daß ich mit 17 Jahren Soldat wurde und mit 21 bereits ein gewisses Bewußtsein davon erlangt hatte, was in den letzten rund 200 Jahren in Venezuela wirklich geschehen war. Wie man Bolívar aus Venezuela vertrieben hatte, fand ich unglaublich, hatte man uns doch immer von Simón Bolívar, dem Befreier, erzählt; doch anschließend haben sie ihn aus dem Lande gejagt, nicht die Spanier, nein, die Venezolaner selbst, die venezolanische Oligarchie; außerdem töteten sie den erst 35 Jahre alten Feldmarschall Sucre; auch Bolívars Frau, Manuela Sáenz, wurde von ihnen vertrieben, ebenso wie Simón Rodríguez; sie verjagten alle Bolivarianer und machten sich zu Herren des Landes. Damals sagte Bolívar: »Ich habe das Meer gepflügt.«
Was diese Unabhängigkeit gebracht habe, fragte Bolívar den Gouverneur von Cartagena, General Montilla, als er nach 20 Jahren auf dem Schlachtfeld, einen Monat vor seinem Tod (1830) wieder nach Cartagena kam und die Stadt voller armer Kinder und Bettler sah. Da sprach er von seinem Maultier herab, gerichtet an General Montilla, die Worte: »Zu was hat diese besch… Unabhängigkeit gedient?«
Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde Venezuela zu einem an Erdöl und allen möglichen anderen Ressourcen reichen Land, aber paradoxerweise auch zu einem Land mit viel Armut, zu einem reichen, von Armen bewohnten Land. Und da standen wir, vor allem wir Soldaten, die sich als unmittelbare Erben der einstigen Vereinigten Befreiungsarmee Südamerikas betrachteten, ohne zu reagieren.
Als Kindern oder als Soldaten, die eigentlich noch Kinder waren, hatte man uns erzählt: »Ihr seid die Erben des Ruhmes von Bolívar.« Doch es wurde uns klar, daß man uns benutzte, um unser eigenes Volk zu massakrieren, wenn es protestierte, um Gerechtigkeit zu fordern. Wie beispielsweise, als man die Schocktherapie des Internationalen Währungsfonds anwenden wollte; das war der Moment, als das »Caracazo«-Massaker (1989) verübt wurde und uns der Fluch des Bolívar traf, der einmal gesagt hat: »Verflucht sei der Soldat, der die Waffen gegen sein Volk richtet.« Nach Caracazo habe ich zu meinen Gefährten gesagt, »wir sind verflucht; und von diesem Fluch müssen wir uns befreien.« Drei Jahre später organisierten wir die Rebellion vom 4. Februar 1992. Da haben wir uns von dem Fluch befreit.
Daher behaupte ich, daß sich die Notwendigkeit eines neuen Venezuela aus einem Ensemble von Bedingungen ergibt, die durch das Bewußtsein in besonderer Weise gefördert werden. Denn hier in Venezuela hat es einmal vor 200 Jahren ein Projekt gegeben, welches die Grenzen des Landes überschritt, das Projekt eines vereinigten Südamerika, eines Großkolumbien. Es geriet aus der Bahn, und trotzdem charakterisiere ich das heutige Geschehen mit dem Ausspruch des Dichters Pablo Neruda: »Bolívar erwacht alle hundert Jahre, wenn das Volk erwacht.«
Aus dem Zusammentreffen verschiedener geschichtlicher Gegebenheiten – dem Scheitern eines Projektes und der beleidigenden Mißhandlung eines Volkes – wie auch des entsprechenden Bewußtseins ging all dies hervor: Das Bewußtsein eines Volkes, das erwacht, sowie auch das Bewußtsein, das bei den patriotischen Militärs erwachte.
Gefängnis als Schule
Nach diesem 4. Februar 1992 war ich zwei Jahre, zwei Monate und einen Tag in Haft, wo ich viel gelernt habe. Daß das Gefängnis eine Art Schule war, habe ich immer öffentlich gesagt; ich glaube, daß es unter Umständen nötig ist, sie zu durchlaufen.
In erster Linie klärt sich die innere Haltung, die Überzeugungen festigen und vertiefen sich. In der Haft, in all den Tagen und Nächten, kamen wir ideologisch voran; denn vor allem waren wir politische Gefangene, mit Würde, mit dem Bewußtsein, daß wir notwendigerweise dort waren.
Da fällt mir ein: Ich war Leutnant, als ich 1977 in ein Antiguerilla-Lager geschickt wurde. Ich hatte immer ein paar Bücher dabei, dachte viel nach, und eines der Dinge aus dieser Zeit im Lager, an die ich mich erinnere – es war mit Sicherheit eine Schule -, ist die Lektüre des Buches von Plechanow »Über die Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte«, weil sie mir etwas gebracht hat.
Während ich dort war, bekam ich eine Vorstellung von der Idee der Notwendigkeit, die man sich bewußt machen muß, von der Frage, ob man sich der Rolle, die man spielt, bewußt ist oder nicht; und was man auch immer tut, wenn es um ein höheres Ziel geht: Es ist nicht wichtig, ob man in einem Kerker in Ketten liegt, in jedem Fall fühlst du dich frei, weil du deine Rolle übernimmst und begreifst, daß du sie zwangsläufig übernehmen mußt.
Im Gefängnis erinnerte ich mich an manche Lektüre aus früheren Jahren, und niemals fühlte ich mich wirklich gefangen, auch nicht verzweifelt oder eingesperrt, nein, ich fühlte mich in diesem kleinen Raum frei, vor allem, weil ich die Zeit gut genutzt habe. Auf der ideologischen Ebene konnte ich das weiter vertiefen, was ich in all den Jahren studiert hatte: im wesentlichen die bolivarische Ideologie. Denn Bolívar ist nicht bloß eine einzelne Persönlichkeit; es geht um viel mehr, es geht um ein Konzept, es geht um mehr als um eine Idee, es geht um einen Komplex von Ideen, in dem sich die Politik mit der Gesellschaft, mit der Gerechtigkeit verbindet, sowohl im nationalen Rahmen als auch im regionalen Südamerikas und der Karibik wie auch im globalen Zusammenhang. Bolívar ist der Mann, der eine Idee auf internationaler Ebene vertrat. Was wir heute als multipolare Welt bezeichnen, erwähnte er beispielsweise im Zusammenhang mit der Frage der Integration Süd- und Mittelamerikas im Rahmen eines »Großkolumbien«. Dieses sollte unter Bedingungen der Gleichheit mit den anderen drei Teilen der Welt verhandeln können; das war bereits eine multipolare Vision.
Bolívar war auch Antiimperialist; einem befreundeten General schrieb er: »Die Vereinigten Staaten scheinen von der Vorsehung bestimmt, Amerika im Namen der Freiheit mit Elend zu überziehen.«
All dies machte meine Erfahrungen im Gefängnis aus. Wir lasen, wir diskutierten in kleinen Gruppen. Daraus gewannen wir eine größere Solidität und Dimension dessen, was später als die Doktrin der bolivarischen Bewegung entstand und die Straße eroberte.
Die Frage der Strategie
Auf der praktischen Ebene dieses Projekts ging es um die Frage der Strategie: Wie war eine gegebene Lage in eine andere, neue zu verwandeln, wie konnte über das Bisherige hinausgegangen, wie damit gebrochen werden. Diese Idee war damals nur ein Samenkorn, eine Pflanze, die austreiben wollte. An diesem 4. Februar 1992 gab es nur die Idee einer verfassungsgebenden Versammlung.
Im Gefängnis studierten wir die These, die von den Franzosen, besonders nach der französischen Revolution, mit dem Begriff »le pouvoir de la Constitution« (»die verfassungsgebende Gewalt«) zum Ausdruck gebracht wird, viel gründlicher, denn dabei ging es in Wirklichkeit, im Ursprung, um die verfassungsgebende Macht des Volkes, die revolutionäre Macht. Daher gelangten wir im Gefängnis zu einem tieferen, festeren Bewußtsein, und als wir am 26. März 1994 herauskamen – ich war einer der letzten -erinnere ich mich, daß beim Verlassen der Militärfestung hier in Caracas eine Gruppe von Journalisten auf mich zukam. Eine der Fragen, die sie mir stellten, war: »Wohin gehen Sie jetzt?« Und ich antwortete ihnen klar und eindeutig: »An die Macht, ja, an die Macht«, so einfach in drei Worten: an die Macht. Tatsächlich kamen wir aus dem Gefängnis mit viel klareren Ideen, mit einem klareren Horizont und geistig bedeutend gefestigt, vor allem aber bewegten wir uns unter einer lebendigen, aufgewachten Bevölkerung, und das war dabei das Wunderbarste, was uns widerfuhr.
Wir hatten zunächst die allgemeine strategische Idee, die Regierung zu stürzen und eine verfassungsgebende Versammlung einzuberufen. Es war schon ein wenig naiv, wenn wir auf die Fragen der Kameraden vom Militär immer sagten, laßt uns eine verfassungsgebende Versammlung einberufen, und dann kehren wir in die Kasernen zurück. Das war eine etwas naive These, man war eben jung, das war ein phantastischer Streich im Stil von Don Quijote. Weißt du, wir waren ein wenig so wie jener andere Don Quijote, der einmal schrieb: »Ich fühle wieder die Rippen der Rosinante unter meinen Beinen.« (Anm. d. Hrg.: Anspielung auf den letzten Brief des Comandante Ernesto Che Guevara an seine Eltern). In der damaligen Lage eine Donquichotterie aus Verzweiflung; aber wir hatten bereits eine Idee, und wir hatten auch eine Reihe von Dekreten ausgearbeitet, freilich mit Hilfe einer Gruppe von Fachleuten und zivilen Politikern der Linken, darunter Cléver Ramírez, eines alten Guerillakämpfers.
Wir hielten Kontakt mit der damaligen (radikalen Partei) Causa »R«. Doch diese Leute zogen sich schließlich zurück, weil unsere Idee viel mehr war als eine Militärrebellion. Das Konzept war sowohl militärisch wie zivil. Das ist es immer gewesen. Es schloß die Beteiligung der Arbeiterklasse ein. Daran habe ich gestern noch in einem Gespräch mit einigen Arbeiterführern erinnert. (…)
In unseren Versammlungen, die dem 4. Februar vorausgingen, in diesem ganzen Entstehungsprozeß sprachen wir von Arbeiterbataillonen, das heißt, wir stellten uns den Tag der Rebellion so vor, daß die ganze Bevölkerung auf der Straße wäre, und die Leute sich bewaffneten, vor allem Arbeiter und Soldaten. Das trat unter den gegebenen Umständen so nicht ein. Aber es bestand in politischer Hinsicht weiterhin das Projekt der Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung, was bedeutete, daß das Land einen demokratischen Weg einschlagen würde, aber erst danach und aufgrund eines Verfassungsprozesses, der mit dem Schema der Vierten Republik brechen würde.
In den zwei Jahren der Haft entwickelten wir dieses Idee, und als wir herauskamen, waren wir viel weiter. Allerdings nicht alle von uns, weil einige sich nach der Entlassung der Regierung von Caldera (des Präsidenten Venezuelas von 1993 bis 1998) anschlossen. Aber wir, die wir in die bolivarische Strömung eingingen, zu der ich gehörte, und die ich in den letzten Jahren geleitet habe, kamen viel stärker und bewußter aus dem Gefängnis heraus.
Das war die Idee, die an jenem 4. Februar über das Land hereinstürzte, als ich Oberstleutnant war. Denselben Rang habe ich auch heute noch. Wir trugen als Gefangene weiter unsere Uniformen. Man wollte sie uns mehrmals wegnehmen. Aber wir widersetzten uns. Nach der Entlassung aus dem Gefängnis nahm ich meinen Abschied, weil ich wirklich nicht im Sinne hatte, zur Armee, in die Kaserne zurückzukehren. Das war für mich undenkbar. Ich mußte auf die Straße, wo die Bevölkerung in Bewegung geraten war.
Herkunft
Meine einheimischen Vorfahren kommen von Vaters Seite her. Mein Vater ist eine Mischung aus indianischem und afrikanischem Blut, worauf ich stolz bin, weil indianisch sein für mich bedeutet, mit den tiefsten ursprünglichen Wurzeln dieses Volkes in unserem Land, mit dem indianischen Amerika verbunden zu sein. Auf diese Mischung hat mich letztes Jahr eine Kubanerin, eine kubanische Athletin angesprochen. Wir sprachen ihr in einer schlichten Feier unseren Dank aus, weil sie hier im Sport mit uns zusammengearbeitet hatte. Sie war sehr schön. Oder etwa nicht, diese Mischung aus schwarz mit hellen Augen?
Da sagte ich zu ihr: »Wie schön du bist!«, und ich überreichte ihr das Diplom, worauf sie erwiderte: »Wir sind die perfekte Mischung, Indio mit Schwarz und ein bißchen Weiß.« Da fühlte ich mich sehr stolz, vor allem, weil mir bewußt ist, was der koloniale Ansturm bedeutete, die ganze kolonialistische Invasion durch das imperiale Spanien hier in Venezuela im Jahre 1498 und dort in »La Española« (Haiti) im Jahre 1492 und später in Kuba und in der Karibik. Auch England und Portugal haben den Kontinent verwüstet. All dies hat einem, als man erwachsen wurde, die Augen geöffnet. Ich war schon Soldat, als ich über all dies nachzudenken und aufzuwachen begann. Als ich auf der Oberschule war, interessierte ich mich nur für Baseball und wollte Werfer in der Oberliga oder bei den Magallanes werden.
Ich ging nicht zur Militärakademie, weil ich Soldat werden wollte, sondern weil das für mich die einzige Möglichkeit war, um nach Caracas zu kommen; denn ich stamme aus einer sehr einfachen Familie, wir waren in materieller Hinsicht sehr arm, und mein Vater konnte mir ein Studium in Caracas nicht bezahlen. Ich legte meine Reifeprüfung ab und kam zur Militärakademie – allerdings mit der Idee, dort nach einem Jahr wieder auszuscheiden, in Caracas zu bleiben und Baseball zu spielen, Werfer zu werden.
Dort beschäftigte ich mich mit Geschichte. Ich las Bartolomé de Las Casas und viele andere historische Bücher. Ich sah, was wirklich geschehen war. Man hat uns vernichtet. Da begann ich, mit meiner Umgebung in Konflikt zu geraten. Ich erinnere mich, daß man uns als Kadetten an einer Büste, einer Statue von Columbus vorbeimarschieren ließ. Da fragte ich meine Kameraden, wie wir dazu kämen, demjenigen, der die Invasion gegen uns befehligt hatte, militärische Ehren zu erweisen. Das war doch die Höhe. Seit damals hat es 30 Jahre gedauert, uns und unser Volk an die Macht zu bringen, eine neue Etappe einzuleiten und die Dinge zurechtzurücken. Wir haben Columbus nicht umgestürzt. Er steht noch da als Statue. Aber wir erweisen ihm keine militärischen Ehren mehr. Jetzt ehren wir Guaicaipuro, den Anführer des Aufstandes der Eingeborenen, dessen Frau und Töchter die Spanier töteten, und der sie, als sie ihn selbst töteten, mit den Worten herausforderte: »Kommt ihr Spanier und seht, wie der letzte freie Mann dieser Erde zu sterben versteht.« Ehre gebührt Guaicaipuro und den Häuptlingen Manaure, Ma und Tabacares wie auch den karibischen Indios. »Ana Karina Rote auno toto paparoto mantoro« (Ruf der karibischen Eingeborenen, der soviel bedeutet wie: »Nur wir sind freie Männer. Die anderen sind unsere Sklaven«). Wenn ich diese Worte ausspreche, regt sich der Karibe in mir; denn ich bin Indio, mit Afrikanischem gemischt und mit einem Schuß Weiß. Wir sind keine antiweißen Rassisten; denn die Konzeption eines Volkes sollte immer eine konkrete Realität reflektieren und keine Abstraktion sein. Vielfach dominiert die Abstraktion. Aber was ein Volk ausmacht, das ist nach der Erkenntnis gewisser Philosophen die Tatsache, daß in einer Gruppe von Einwohnern eines Territoriums ein Bewußtsein einer gemeinsamen Geschichte vorhanden ist. Man muß aus derselben Quelle trinken. Man muß vor allem ein gemeinsames Projekt haben.
Terror der Oligarchie
Wenn man daher vom venezolanischen Volk spricht, kann man dies, um einen Begriff davon zu bekommen, auf vielfache Art und Weise tun, je nach der jeweiligen Zeit. Es gab eine Zeit, da hatten wir ein Volk, das eigentlich kein Volk war, kein Bewußtsein von der Vergangenheit hatte, aus keiner gemeinsamen Quelle trank, das manipuliert war und immer wieder getäuscht wurde.
Die früher tonangebenden Leute – ich erinnere mich, daß bestimmte Dinge mich schon damals traurig machten, als ich noch ein junger Busche war – das waren diese »mayameros«, diese ganze Mittelschicht, die verrückt danach war, Urlaub in Miami zu machen nach dem Motto »das ist billig, geben Sie mir das Doppelte« oder »laß uns Kleidung kaufen gehen, das ist billig, ich nehme das Doppelte.« Venezuela war in der Welt bekannt wegen seiner verschwenderischen Reichen, wegen seiner schönen Frauen und wegen des Erdöls, aber das eigentliche Venezuela, das tief in der Bevölkerung wurzelnde Venezuela ist etwas anderes.
In diesem tiefen Venezuela kannst du einem Volk begegnen, das heute einen unglaublich hohen Bewußtseinsstand erreicht hat. So hoch, Aleida, daß man mit dem, was ich dir jetzt erzähle, mit dieser Anekdote vielleicht am deutlichsten erfassen kann, was ein Volk ist, was es in Wahrheit immer gewesen ist, seit über zweihundert Jahren.
Letztes Jahr, als inmitten des Öl-Streiks, den wir »Ölterror« nannten, diese venezolanische Oligarchie und ihre internationalen Verbündeten die Raffinerien und Ölfelder sabotierten, gingen sie so weit, sogar Millionen Liter Milch wegzuschütten, das Vieh nicht zum Schlachthof zu bringen, damit es nichts zu essen gab. Ihr Plan war, im Lande eine Zerreißprobe, ein Chaos, einen nationalen Zusammenbruch herbeizuführen.
Wir verfügten nicht über das Gas, das an die Bevölkerung verkauft wurde, vor allem an die Armen dort oben auf den Hügeln. Eines Tages wurde die Lage sehr schwierig. Wir hatten kein Benzin, kein Gas, keine Nahrungsmittel, obgleich wir auf allen Gebieten Anstrengungen gemacht hatten. Ich erinnere mich, daß Fidel uns ein Schiff mit Getreide und Bohnen schickte und mir am Telefon sagte: »du bezahlst mich, wenn du kannst«. Brasilien schickte uns ein Schiff mit Benzin, ebenso Trinidad und Tobago. Aus Kolumbien erhielten wir Milch und Fleisch. Und soweit wir konnten, belieferten wir die Bevölkerung. Es gab kein Benzin, bis diese Schiffe eintrafen. Manche Leute verbrachten drei bis vier Tage in langen Autoschlangen, um auf ein paar Liter Benzin zu warten. Auch das Gas ging zu Ende.
An einem dieser schwierigen Nachmittage sagte ich zu einer Gruppe Genossen, ich würde gerne selber sehen, was dort oben auf den Hügeln vor sich geht. So gingen wir mit wenigen Leuten dort hoch. Als wir ankamen, sagte ich zu ihnen, ich würde hier gerne aussteigen, um zu sehen, was die Leute machen. Es herrschte große Unruhe. Das Volk war auf der Straße, auf der Suche nach etwas Reis, ein paar Bananen. Wir gingen ein wenig herum. Die Leute begannen, uns zu grüßen. Ich redete mit ihnen und fragte, wie es ihnen ginge, als eine schon ältere, kräftige schwarze Frau mich mit harter Hand anfaßte und zu sich rüberzog. »Komm her, Chávez« – da gab es nichts zu argumentieren – »komm mit mir, ich möchte dich zu mir einladen.« Wir gingen eine Treppe hoch. Man machte gerade Essen in einem Kochtopf. Es gab Reis, etwas Kartoffeln und Bananen, kurz gesagt, eine Art Eintopf von Speiseresten, auf einem Holzfeuer zubereitet.
Die Frau schaute mir tief in die Augen, zog mich beim Anzugrevers dorthin und sagte: »Chávez, in meinem Haus gibt es keine Stühle mehr. Das Holz, was da verbrannt wird, sind die Füße von meinem Bett. Wir werden die Möbel aufbrauchen, das Dach des Hauses und die Türen werden wir zu Brennholz machen, aber wehe, du gibst auf.«
Ich will damit sagen, daß der Bewußtseinsstand dieser Frau der Bewußtseinsstand von Millionen ist, die sich darüber klar geworden sind, was das Wesentliche dieses Kampfes ist. Und das ist nichts Überraschendes, wenn man weiß, was das Wesen des venezolanischen Volkes ausmacht. Die Venezolaner sind ein Volk von Kriegern. Bolívar, der dieses Volk von Grund auf kannte, hat einmal gesagt: »Venezuela ist mitten in einem Feldzug entstanden.« Ein ganzes Volk zog in den Krieg. Das ganze Volk wurde zu einer Armee, Männer, Frauen und selbst Kinder waren bereit, sich im Kampf gegen das spanische Imperium zu opfern.
Diese Leute waren auch Träumer, eine Nation von Träumern, und Bolívar an ihrer Spitze. Er ähnelte dem Quijote, als er sagte: »Laßt uns ganz Lateinamerika vereinigen… Das Amerika, das einst spanisch war; es wurde zu jener Zeit noch nicht als Lateinamerika bezeichnet. Dann führte Bolívar sein Heer nach Potosí. Und in Ayacucho schlug Sucre das spanische Imperium und sie vereinigten die Argentinier, das Volk vom Rio de La Plata, von Chile, von Artigas und von Paraná. Und sie vereinigten sich alle in einer Befreiungsarmee, die sogar plante, Kuba und Puerto Rico zu befreien.
Da ist eine Willenskraft, die allem gewachsen ist. Ein sehr standhaftes Volk, das zu großer Liebe fähig ist. Aber es unterscheidet sich nicht wesentlich von dem kubanischen Volk. Wenn du das kubanische Volk kennst, kennst du auch das venezolanische. Im wesentlichen sind wir eine einzige Nation, und unsere Heimat ist, wie Bolívar immer sagte, das ganze Amerika, das einst spanisch war.
Übersetzung aus dem Spanischen: Klaus von Raussendorff