»Über einige Besonderheiten der historischen Entwicklung des Marxismus« – so lautet eine Arbeit von Wladimir Iljitsch Lenin, in der er sich mit den Folgen der Niederlage der ersten russischen Revolution von 1905 befaßte. In Strömen verließen damals viele Mitglieder (darunter auch viele der zuvor frisch eingetretenen Intellektuellen) wieder die revolutionäre Partei. Der »Abschied vom Marxismus«, den wir auch nach 1989/91 erlebten, wurde damals nachgerade eine Mode. »Als Widerspiegelung dieses Wechsels traten tiefgehender Zerfall, Zerfahrenheit, alles mögliche Wanken und Schwanken – mit einem Wort eine sehr ernste innere Krise des Marxismus in Erscheinung. Die entschiedene Abwehr dieses Zerfalls, der entschlossene und hartnäckige Kampf für die Grundlagen des Marxismus trat wieder auf die Tagesordnung.« So lautete Lenins Diagnose (Lenin, Werke, Band 17, S. 27).

Es war und ist auch für uns deutsche Kommunisten nicht unwichtig zu sehen, welche Schlußfolgerungen andere kommunistische Parteien aus der Niederlage des realen Sozialismus in Europa und der UdSSR zogen. Ich denke dabei zuerst an die Führung der Kommunistischen Partei Kubas, die schon vor dem schmählichen Ende des von Michail Gorbatschow in den Ruin getriebenen Sowjetsozialismus Land und Partei auf dieses Desaster eingestellt hatte. Sie verstand es, das Land und die KP durch die harte Durststrecke der »Spezialperiode« der 90er und frühen 2000er Jahre zu steuern, ohne daß die KP Kubas ihren revolutionären, marxistisch-leninistischen Charakter und ihr sozialistisches Ziel aufgab.

Selbstbesinnung oder Selbstzweifel?

Ich erinnere aber auch an eine in Deutschland leider weniger beachtete, aber herausragende kommunistische Führungspersönlichkeit, den langjährigen Generalsekretär der Portugiesischen Kommunistischen Partei (PCP), Alvaro Cunhal (1913–2005). Sein Kampf als Illegaler in der Zeit der faschistischen Salazar-Diktatur; seine mitreißende und mobilisierende Rolle während und nach dem Sieg der »Nelkenrevolution« von 1974 und seine dann strategisch so kluge Führungstätigkeit, als der Vormarsch der sozialistischen Etappe der revolutionären Umwälzung Portugals wegen des geeinten und koordinierten Handelns des US-Imperialismus, der NATO, der EU, der wichtigsten europäischen imperialistischen Staaten, der internationalen Sozialdemokratie sowie der inneren Reaktion gestoppt werden mußte, sind legendär.

Auch dank seiner individuellen Fähigkeit, geschlossen einen strategischen Rückzug durchzuführen, mit einer um ein marxistisch-leninistisches Programm geeinten Partei, konnte die PCP ihren Masseneinfluß bewahren und bis heute ihr klares Profil als eine revolutionäre Partei der Arbeiterklasse, der Bauern und der anderen Werktätigen wahren und weiterentwickeln. Bemerkens- und lesenswert sind bis heute seine Schlußfolgerungen über den Charakter einer KP am Beginn des 21. Jahrhunderts.

In seiner Arbeit »As Seis Caracteristicas Fundamentais de um Partido Comunista« (Die sechs grundlegenden Charakterzüge einer Kommunistischen Partei) aus dem Jahre 2001 geht Cunhal auf die innere Lage der kommunistischen Bewegung zu Beginn des 21. Jahrhunderts ein und schreibt: »Die internationale kommunistische Bewegung und die Parteien, aus denen sie sich zusammensetzt, unterlagen tiefgreifenden Veränderungen im Ergebnis des Zusammenbruchs der UdSSR und anderer sozialistischer Staaten und des Erfolgs des Kapitalismus im Wettbewerb mit dem Sozialismus.

Es gab Parteien, die ihre kämpferische Vergangenheit, ihre Klassennatur, ihr Ziel einer sozialistischen Gesellschaft und ihre revolutionäre Theorie verleugneten. In einigen Fällen verwandelten sie sich in systemintegrierte Parteien und verschwanden schließlich von der Bildfläche.«

Diese Feststellung ist auch im Jahr 2011 aktuell und richtig.

Merkmale einer KP

Die kommunistische Bewegung – so Cunhal weiter – habe insgesamt »eine Beweglichkeit in ihrer Zusammensetzung erfahren und neue Grenzen erhalten«. Auch wenn es kein »Modell« einer kommunistischen Partei gebe, ließen sich aber dennoch »sechs grundlegende, charakteristische Merkmale der Identität einer kommunistischen Partei aufzeigen, egal ob die Partei diesen Namen oder einen anderen trägt«.

Kurz zusammengefaßt, bestünden ihre Charakterzüge darin:

  1. eine von den Interessen, der Ideologie, von Druck und Drohungen der Kapitalkräfte völlig unabhängige Partei zu sein;
  2. eine Partei der Arbeiterklasse, der Werktätigen im allgemeinen, der Ausgebeuteten und Unterdrückten zu sein;
  3. eine Partei mit einem demokratischen Innenleben und einer einheitlichen zentralen Leitung zu sein;
  4. eine Partei zu sein, die zugleich internationalistisch ist und die Interessen ihres Landes verteidigt;
  5. eine Partei zu sein, die als ihr Ziel den Aufbau einer Gesellschaft definiert, die weder Ausgebeutete noch Ausbeuter kennt, einer sozialistischen Gesellschaft;
  6. Trägerin einer revolutionären Theorie zu sein: des Marxismus-Leninismus, der nicht nur die Erklärung der Welt möglich macht, sondern auch den Weg zu ihrer Veränderung aufzeigt.

Insbesondere der letzte Punkt klingt in seiner Einfachheit und Schlichtheit wenig aufregend– wie ja auch die anderen fünf Punkte ebenfalls wenig »Neues« zu enthalten scheinen. Und doch sind diese »Selbstverständlichkeiten« keine »Selbstverständlichkeiten« mehr – auch nicht für Kommunisten. Doch dazu gleich mehr.

Klassiker beim Wort genommen

Cunhal gibt für den Punkt sechs folgende Erläuterungen, die hier wegen ihrer Eindeutigkeit und Unverwechselbarkeit ausführlicher zitiert seien:

»Alle verleumderischen antikommunistischen Kampagnen Lügen strafend, ist der Marxismus-Leninismus eine lebendige, antidogmatische, dialektische, schöpferische Theorie, die sich weiter anreichert durch die Praxis und durch die Antworten auf neue Situationen und Erscheinungen, die zu geben sie berufen ist. Sie treibt die Praxis dynamisch an und bereichert und entwickelt sich schöpferisch anhand der Lektionen der Praxis.

Marx im ›Kapital‹ und Marx und Engels im ›Manifest der Kommunistischen Partei‹ analysierten und definierten die grundlegenden Elemente und Wesensmerkmale des Kapitalismus. Die Entwicklung des Kapitalismus unterlag indessen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einer wichtigen Abänderung. Die Konkurrenz führte zur Konzentration und die Konzentration zum Monopol.

Lenin und seinem Werk ›Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus‹ verdanken wir die Definition des Kapitalismus am Ende des 19. Jahrhunderts. Diese Entwicklungen der Theorie sind von außerordentlichem Wert. Und ebenso hoch zu veranschlagen ist der Wert der Erforschung und Systematisierung der theoretischen Erkenntnisse.

In einer Synthese von außerordentlicher Klarheit und Strenge erläutert ein berühmter Artikel von Lenin die ›Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus‹.

In der Philosophie: der dialektische Materialismus, der im historischen Materialismus seine Anwendung auf die Gesellschaft findet.

In der politischen Ökonomie: die Analyse und Erklärung des Kapitalismus und der Ausbeutung, und die Mehrwerttheorie, die den Eckstein zum Verständnis der Ausbeutung bildet.

In der Theorie des Sozialismus: die Definition der neuen Gesellschaft durch die Abschaffung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen.

Im Laufe des 20. Jahrhunderts und in Begleitung der gesellschaftlichen Transformationen kamen zahlreiche neue theoretische Überlegungen hinzu, jedoch breit gestreute und widersprüchliche Überlegungen, welche es schwierig machten zu unterscheiden, was theoretische Entwicklungen sind und wo es sich um revisionistische Abweichungen von den Grundsätzen handelt.

Daher die zwingende Notwendigkeit von Debatten ohne vorgefaßte Meinungen und verabsolutierte Wahrheiten, wobei es nicht um die Suche nach Schlußfolgerungen geht, die für definitiv gehalten werden, sondern um die Vertiefung der gemeinsamen Reflexion.« (zitiert nach: Die sechs grundlegenden Charakterzüge einer Kommunistischen Partei)

Cunhal ist mittlerweile sechs Jahre tot. Seine Partei, die PCP, betrachtet ihn jedoch nicht einfach nur als Idol, das allmählich auf seinem Sockel zur »historischen Figur« wird, deren Gedanken und Ideen aber allmählich in Vergessenheit geraten. Seine theoretischen und programmatischen Schlußfolgerungen bestimmen bis heute den Kurs und das Selbstverständnis der PCP.

Doch es geht leider auch ganz anders.

Auf glattem Eis

Das aktuelle Beispiel dafür bieten die Überlegungen des Generalsekretärs der KP der USA, Sam Webb, die dieser im theoretischen Organ seiner Partei Political Affairs im Februar dieses Jahres unter dem Titel »Eine Partei des Sozialismus im 21. Jahrhundert: Wie sie aussieht, was sie sagt und was sie tut« veröffentlichte. Auf Deutsch erschienen sie jetzt auf der Website des DKP-Nachrichtenportals (“Eine Partei des Sozialismus im 21. Jahrhundert” ).

Warum sind Webbs Thesen auch außerhalb der KP der USA von Interesse? Warum sah z.B. die Kommunistische Partei Griechenlands (KKE) trotz der Inanspruchnahme durch die im eigenen Land tobenden Auseinandersetzungen und Klassenkämpfe, die ihr doch soviel Energie und Kampfkraft abfordern, sich genötigt, einen geradezu dramatischen Appell »An die Mitglieder und Kader der Kommunistischen Partei der USA! An die in den USA kämpfenden Arbeiter! An die kommunistischen und Arbeiterparteien!« zu richten, um sie zum Protest gegen diese Thesen aufzufordern? Und warum beschäftigen sich nun auch deutsche Kommunistinnen und Kommunisten damit?

Sam Webb betont zu Beginn seiner im einzelnen sehr unterschiedlich langen und auch theoretisch sehr unterschiedlich bedeutenden 29 Thesen, daß er sich auf »Glatteis« begibt, und auch die Herausgeber der theoretischen Zeitung der KP der USA Political Affairs wußten wohl, worauf sie sich mit deren Abdruck einließen. Der Vorspann macht dies klar. »Der folgende Artikel vertritt nur die Meinung des Verfassers. Diese muß nicht der offiziellen Meinung einer Organisation oder eines Kollektivs entsprechen.«

Und auch Sam Webb schien zu ahnen, daß manchem Rezensenten im Zusammenhang mit seinen Thesen das Sprichwort vom vierhufigen Grautier durch den Sinn gehen muß, das sich »aufs Eis begibt, wenn ihm zu heiß wird«. Zumindest bei denjenigen dürfte dies so sein, die gedankliche Kapriolen nicht nach der »Originalität« ihrer verschlungenen und auch um sich selbst zirkulierenden Schlußfolgerungen beurteilen, sondern danach, ob »das Grautier« am Ende sein Gleichgewicht behält und einen Kurs einschlägt, der seiner Akrobatik einen (politischen) Sinn verleiht.

Offenbar, um solchen Kritiken vorzubeugen, betont Webb in der Einleitung, es handle sich dabei um ein »unfertiges Manuskript«. Die Leser würden sicherlich »Ungereimtheiten, Widersprüche, Fehlstellen und unfertige Ideen finden«. Diese Art allzu demonstrativer Bescheidenheit und das damit einhergehende »fishing for compliments« kontrastiert mit dem doch sehr klaren und durchaus nicht »unfertigen« Ergebnis der Thesen.

Kommunisten ohne Lenin

Sam Webb liefert am Ende sehr wohl eine in sich geschlossene »Idee«. Zwar ist sie nicht originell – ein Leserbrief der DKP-Wochenzeitung UZ wies bereits darauf hin: »Was ist so aufregend, neu und wichtig für uns an diesen Thesen des Genossen Webb (…)? Ich kann es nicht erkennen. Den Kern seiner ›Reflexionen über Sozialismus‹ konnten LeserInnen der Marxistischen Blätter schon Mitte 2008 lesen und beurteilen (Schwerpunktthema ›Marxismus International‹, 3/2008.) Und andere Thesen (z.B. die Reduktion von Marxismus auf Methode oder die Orientierung auf ›Marxismus ohne Lenin‹) haben wir in unserer Partei seit Mitte/Ende der 80er Jahre nicht nur rauf- und runterdiskutiert, sondern uns kollektive Antworten erarbeitet (und mit einem neuen Parteiprogramm ›gekrönt‹).« (Lothar Geisler, »Thesen nicht neu«, in Unsere Zeit vom 1.7.2011, S. 12)

In der Tat: Von den 29 Thesen enthalten die meisten nicht viel Neues – sie schreiben lediglich eine im erwähnten Artikel der Marxistischen Blätter von 2008 in Ansätzen bereits erkennbare gedankliche Irrfahrt fort, die jetzt aber in einem Bruch mit zentralen Punkten des kommunistischen Theorie-, Sozialismus- und Parteiverständnisses endet und am Ufer eines linkspluralistischen »Marxismus« der früheren »Eurokommunisten« oder des gegenwärtigen »demokratischen Sozialismus« à la deutscher »Linkspartei« bzw. »Europäische Linke« strandet.

Ich erwähne besonders die Absage an die Theorie von Marx, Engels und Lenin als einer einheitlichen, revolutionären Theorie der Arbeiterklasse. »Originell« ist hierbei lediglich ein neuer, bislang so nicht bekannter xenophober Unterton. Dazu heißt es in These 2: »Was den ›Marxismus-Leninismus‹ betrifft, sollte dieser Begriff zugunsten der einfachen Formulierung ›Marxismus‹ aufgegeben werden. Zum einen erweckt der Begriff bei normalen Amerikanern negative Assoziationen, sogar in linken und progressiven Kreisen. Wen man auch fragt, klingt es entweder fremd oder dogmatisch oder undemokratisch oder all dies zusammen.«

Zugegeben: Lenin war kein Exilrusse, der sich in die USA gerettet, dort die US-Staatsbürgerschaft angenommen und seinen Vor- oder Familiennamen »amerikanisiert« hatte – vielleicht in Sam Cook oder Sam Smith. Aber hält der »normale Amerikaner« statt dessen »Karl Marx« etwa für einen »fellow citizen«? Und klingt »Marxismus« wirklich so toll »amerikanisch«, daß vielleicht selbst Sarah Palin, die Ikone des »normalen Amerikaners«, darunter eine Nettigkeit und Harmlosigkeit versteht, die ihre patriotischen Gefühle zum Klingen bringt?

Ob der »Webbismus« nun der wirkliche Bringer ist, auf den Jim und Jane warten? Shakespeares »Macbeth« kommt mir in den Sinn mit seinem fast zum Fluch werdenden Seufzer: »Ein Märchen ist’s, erzählt/Von einem Blödling, voller Klang und Wut,/Das nichts bedeutet.« Doch die Webb-Thesen bedeuten doch mehr als lärmendes Wüten, auch wenn uns leidgeprüften europäischen Kommunisten diese Gegenüberstellung von Marx und Lenin und das Eliminieren des letzteren aus dem, was dann verschämt »Marxismus« oder – noch raffinierter – »wissenschaftlicher Sozialismus« genannt werden soll, durchaus gewohnt ist.

Zurechtgestutztes Geschichtsbild

Die DKP hat sich in den frühen 80er Jahren intensiv mit einem Vorläufer des heutigen »Webbismus« auseinandergesetzt, den Ideen eines »westlichen« und »pluralen« Marxismus ohne Leninismus, der in den Studier- und Seminarräumen des Westberliner Professors Wolfgang Fritz Haug, gleichzeitiger Herausgeber der durchaus relevanten marxistischen Zeitschrift Argument, ausgetüftelt worden war (vergl. H. H. Holz/Th. Metscher/J. Schleifstein/R. Steigerwald: Marxismus. Ideologie. Politik. Krise des Marxismus oder Krise des Arguments?, Frankfurt/M. 1984)

Denn auch das zweite nachgeschobene Argument von Webb für die Amputation des Marxismus-Leninismus ist nicht weniger unoriginell und nicht weniger falsch. Es war damals auch von der Haug-Schule genauso formuliert worden. Angeblich entspreche der Marxismus-Leninismus nicht dem »klassischen Marxismus«.

Die von Sam Webb behauptete »Simplifizierung der Ideen von Marx, Engels, Lenin und anderen frühen Marxisten« in Form des »Marxismus-Leninismus in der Stalinperiode« ist schlichtweg falsch. Die nach dem Tode Lenins in der KPdSU und der Kommunistischen Internationale lange vor der unsinnigen »Inthronisierung« Stalins als des »einzigen wahren Schülers Lenins« begonnene Würdigung Lenins als des »dritten Klassikers des Marxismus«, die sorgfältige Aufarbeitung, Sicherung und Weiterentwicklung seines theoretischen Erbes durch die KPdSU und auch viele Komintern-Theoretiker wird durch die Webb-Thesen in ahistorischer Weise ausgeblendet.

Die generelle Behauptung, daß »sowjetische Gelehrte unter Stalins Führung frühere marxistische Schriften systematisierten und vereinfachten, ganz zu schweigen von der Anpassung der Ideologie an die Bedürfnisse des sowjetischen Staates«, ist nichts weiter als das Wiederholen alter antisowjetischer Slogans. Was es in den 70 Jahren sowjetischer Partei- und Wissenschaftsgeschichte natürlich gab, waren zahlreiche Einführungen in den wissenschaftlichen und theoretischen Nachlaß von Marx, Engels und Lenin, die wie alle Einführungen, Kompendien etc. in jeder wissenschaftlichen Disziplin »Vereinfachungen« sind, dazu sind sie eben »Einführungen«. Eine systematische Verfälschung gab es keineswegs. Die Werkausgaben der »Klassiker« sind schließlich nicht in »postsozialistischer« Zeit entstanden. Daran ändert auch die eine oder andere politisch motivierte »redaktionelle Bearbeitung« oder Auslassung in einigen wenigen Lenin-Texten, ohne daß dies begründet und erkennbar gemacht wurde, nichts. Es ist keineswegs so, daß der »Marxismus-Leninismus« eine zurechtgestutzte »simplifizierte« Variante« des »wahren« Marxismus war oder ist.

Gewiß gab und gibt es wie in jeder Theorie und in jeder Wissenschaft Phasen mehr oder minder schöpferischer Anwendung und auch Weiterentwicklung. Und zweifelsohne gab und wird es auch künftig Phasen geben – ebenfalls wie in jeder wissenschaftlichen Doktrin –, in denen neue soziale und/oder (natur-)wissenschaftliche Erscheinungen von revolutionären Marxisten/Kommunisten nicht sofort, zu spät oder nur teilweise richtig beurteilt werden. Es ist das Wesen von Wissenschaft überhaupt, daß sie sich in Widersprüchen zwischen progressiven und eher retardierenden Entwicklungsetappen bewegt.

Webbs weitergehendes Fazit, daß auch das, was er dann als seinen neuen »Marxismus« bezeichnet, nur eine »wissenschaftliche Methode« sei, toppt seine wissenschaftstheoretisch völlig beschränkte und schematisierte Sicht auf den umfassenden Nachlaß der drei Klassiker des Marxismus-Leninismus. Eine »Methode«, die keine Inhalte zutage fördert, ist nichts wert. Und gerade um diese »neu-alten« und zurückzuweisenden Inhalte geht es bei den Thesen von Sam Webb.

Webb.de?

Daß Linke nach der Niederlage des realen Sozialismus über ihr bisheriges Verhältnis zu Lenin und zum Leninismus individuell oder kollektiv nachdenken, konnte nicht ausbleiben. Auch die aus einer marxistisch-leninistischen Partei entstandene PDS tat dies und brach dabei mit ihrem leninistischen Erbe. Auf einer Klausurtagung des damaligen PDS-Vorstandes im Mai 1990 referierte Gregor Gysi zu den neuen theoretischen Grundlagen seiner »reformsozialistisch« gewendeten Partei und erklärte in diesem Zusammenhang sowohl den Abschied vom Marxismus-Leninismus als auch die Hinwendung zu einer ideologisch »pluralistischen« Partei, in welcher der kommunistische Sektor lediglich ein geduldetes Randdasein spielen sollte und durfte.

Insofern sind die Aussagen von Sam Webb nichts Neues. Gleiches gilt für seine »neuen« organisationstheoretischen Vorstellungen. Die in These 27 vorgestellten Überlegungen zur Ummodelung der Parteistruktur zu einem primär internetgestützten lockeren Kommunikationsnetz, dessen Mitglieder vorrangig per E-Mail untereinander agieren, sowie die Aufhebung des Prinzips von Einheitlichkeit und Verbindlichkeit der Programmatik und der Beschlüsse sind ein Votum für die offene Liquidierung der KP. Beschwichtigende Hinweise, daß die Riesenentfernungen zwischen den weit versprengten einzelnen US-Kommunisten die Nutzung der modernen Kommunikationsmittel zwingend erfordern, sind in diesem Zusammenhang absolut nicht überzeugend. Es geht Webb ganz eindeutig nicht um eine Modernisierung der Kommunikationsstränge, die natürlich sinnvoll und notwendig ist. Es geht um etwas ganz anderes: um die Liquidierung einer auf einer festen Organisationsstruktur, klaren Kriterien der Parteimitgliedschaft, gemeinsamer Programmatik, kollektiv erarbeiteter und verbindlicher revolutionärer Strategie und Taktik sowie überhaupt auf verbindlichen Beschlüssen gründenden Partei der Arbeiterklasse, der anderen Werktätigen, der revolutionären Jugend, der unterprivilegierten Frauen, der im Produktions- und Wissenschaftsbetrieb für das Kapital ausgepowerten Intelligenz.

Wenn der Beitritt zu dieser nur noch virtuell existierenden Struktur zudem beliebig sein soll – »nicht schwieriger« als der Beitritt zu »anderen sozialen Organisationen« – dann ist dies eine stimmige Konsequenz aus der Zerschlagung einer ehemals auf den politischen Kampf gegen das kapitalistische System ausgerichteten Partei, bestehend aus realen, gleichgesinnten und koordiniert miteinander sich absprechenden Menschen zu einem losen, sich vor allem auf Unterstützung der Wahlkampagnen der »Demokraten« konzentrierenden kleinen Wahlkampftruppe. Da sind die von Sam Webb noch vorgesehenen Restbestände, die »Teams«, die als Begrüßungs- und Betreuungsgruppen herumreisen, nichts anderes als Staffage.

Braucht die US-amerikanische Arbeiterbewegung eine solche Partei? Ich bezweifle dies sehr. Aber das hat sie selbst zu entscheiden. Die deutschen Kommunistinnen und Kommunisten jedenfalls brauchen sie nicht. Und auch nicht eine »ergebnisoffene und interessante« Diskussion zu diesem Plädoyer für das Ende des Marxismus-Leninismus und der KP. Wir haben Besseres und Wichtigeres zu tun.

Dr. Hans-Peter Brenner, Diplompsychologe und Psychotherapeut, ist Mitglied des Parteivorstands der DKP und Mitherausgeber der Marxistischen Blätter

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