Es schreibt Hans Heinz Holz im Vorort zu seinem soeben erschienen Werk: Macht und Ohnmacht der Sprache. Untersuchungen zum Sprachverständnis und Stil Heinrich von Kleists.
I. Zwischen Rousseau und Patriotismus
Zur Dialektik im Werk Heinrich von Kleists
1.
Heinrich von Kleist steht sich selbst im Licht. Die innere Zwiespältigkeit, die nicht nur sein Wesen, sondern auch sein Werk zerreißt, macht uns die Beschäftigung mit ihm oft quälend, wenn wir auch unter dem unentrinnbaren Zwang stehen, den sein Werk auf uns ausübt. Hat man sich einmal Kleist zugewandt, so kann man ihm nicht mehr entrinnen. Indessen bleibt die Auseinandersetzung mit ihm schwierig, oft unerfreulich. Von seinen Dramen werden wir nur die wenigsten mit Genuß lesen, ja nicht einmal sehen: Die Schauermär von der Familie Schroffenstein ist unerträglich, und man würde sie als Jugendsünde dem Vergessen anheimgeben können, wenn in ihr nicht bereits alle Elemente Kleistscher Dramatik enthalten wären: Die Entartung der Fabel ins Gräßliche, der Umschlag der Sprache in die Negation ihrer selbst, nämlich als Nicht-verstehen-können, die Irrealität, die Unglaubwürdigkeit und das Zaubrisch-Mystische einzelner sinndeutender Züge. Die Mischung von Ritterdramatik und Wundersüchtigkeit im Käthchen von Heilbronn sagt uns kaum zu, so wenig wie sie Goethe zusagte, der das ihm zur Prüfung übersandte Manuskript entsetzt in den Ofen warf. Die Metzelei in der Hermannsschlacht und ihr patriotischer Immoralismus stoßen uns ab. Der Somnambulismus des Prinzen von Homburg erscheint uns ebenso fragwürdig wie das preußische Gehorsamsideal des Kurfürsten. Daneben stehen so großartige Stücke wie die erschütternd-grauenvolle Penthesilea, der wehmütig-heitere Amphitryon, das Guiskard-Fragment und der Zerbrochene Krug, dessen prachtvoller Realismus uns Kleist vielleicht noch am nächsten bringt. Daneben stehen die Novellen, die das Bedeutende in äußerster Konzentration vor uns stellen. So zieht uns Kleist zugleich an und stößt uns ab. Die Bühnen verschließen sich den meisten seiner Dramen; der Leser fühlt sich von ihnen überfordert. Unter den deutschen Dichtern der klassischen Epoche ist Kleist der „modernste“.
Es ist kein Zufall, daß er sich einer existenzphilosophischen Deutung, wie sie Günter Blöcker in seiner grundlegenden Monographie Heinrich 10 I. Zwischen Rousseau und Patriotismus von Kleist oder das absolute Ich versucht hat, besonders leicht zu erschließen scheint. Kleists Menschen sind umwittert von der Not der Einsamkeit; sie leiden unter der Unmittelbarkeit des Gefühls, das sie als den Wesenskern und das „Eigentliche“ ihres Menschseins empfinden. Darin unterscheidet sich Kleist grundsätzlich von der Romantik, mit der er sonst manche Stilmerkmale gemeinsam hat: nicht der Überschwang des sich ausdrückenden Gefühls bestimmt das Verhältnis der Menschen zueinander, sondern die Hemmung, nicht sagen zu können, was sie empfinden.
Penthesilea versagen die Worte, in die sie ihr Inneres fassen könnte; das Käthchen von Heilbronn lebt verschlossen in seiner Ergriffenheit und spricht nur im Traum von seinen Erlebnissen; Alkmene kann über die Verwirrung ihres Gefühls nichts aussagen. Nicht anders die Novellengestalten: die Marquise von O. flieht wortlos vor einer Wirklichkeit, deren Widerspruch sie nicht fassen kann; und gegen den Schein der Worte und Taten steht im Zweikampf die Unerschütterlichkeit des unaussprechlichen Vertrauens, wie umgekehrt in der Verlobung in St. Domingo das durch den Schein von Worten und Taten erschütterte Vertrauen den Menschen ins Verderben und in tödliches Mißverständnis führt: „Ich hätte dir nicht mißtrauen sollen; denn du warst mir durch Eidschwur verlobt, obschon wir keine Worte darüber gewechselt hatten!“ Kleist hat kein Zutrauen zur vermittelnden Kraft der Sprache. Worte sind es, die ins Mißverständnis führen und trennen, statt Klarheit zu schaffen und zu verbinden. Wenn die Menschen miteinander reden, durchbrechen sie nicht ihre Einsamkeit. Zurückgeworfen auf sich selbst, bleiben sie in dem Gehäuse ihrer unaufhebbaren Subjektivität. Es ist bezeichnend, daß in Kleists Briefen sich die erste Schilderung der Verlassenheit des Menschen in der modernen Großstadt findet, eine Schilderung, die an Rilkes Lebensgefühl gemahnt, wenn dieser ein Jahrhundert später dichtete: „Denn, Herr, die großen Städte sind verlorene und aufgelöste …“ Nicht anders klingt es aus Kleists Brief (an Luise von Zenge vom 16.8.1801): „Hier in Paris ist das Herz so gut als tot. Wenn ich das Fenster öffne, so sehe ich nichts als die blasse, matte, fade Stadt mit ihren hohen, grauen Schieferdächern und ihren ungestalteten Schornsteinen, ein wenig von den Spitzen der Tuilerien und lauter Menschen, die man vergißt, wenn sie um die Ecke sind. Noch kenne ich wenige; ich liebe noch keinen und weiß nicht, ob ich einen lieben werde … Man geht kalt aneinander vorüber; ehe man eine Erscheinung gefaßt hat, ist sie von zehn anderen verdrängt; dabei knüpft man sich an keinen, keiner knüpft sich an uns; man grüßt einander höflich, aber das Herz ist hier unbrauchbar wie eine Lunge unter der luftleeren Campane, und wenn ihm einmal ein Gefühl entschlüpft, so verhallt es wie ein Flötenton im Orkan.“
Das ist mehr als Rousseaus Motiv der Kritik an der Zivilisation. Das ist der Abgrund des Alleinseins und der Gemeinschaftslosigkeit, in den der moderne Mensch angesichts der anonymen, gesichtslosen, unpersönlichen Masse stürzt. Die Person hat keinen Weg nach außen mehr, die Ich-Du- Beziehung ist gestört – und sie bleibt es selbst da, wo sie, wie im früheren Expressionismus, pathetisch wiedergewonnen werden soll. So wird Kleist mit Recht von unserer Generation als „gegenwärtig“ empfunden, werden die zarte, wehmütige Innigkeit des Amphitryon und die grauenvolle Eruptivität der Penthesilea als logische Möglichkeiten (wenn auch als extrem auseinanderliegende) derselben Daseinshaltung verstanden: einer Haltung, die der unauflöslichen Spannung zwischen Innerlichkeit und Ausdruck entspringt.
Das Leben des Dichters ist, wie sein Werk, voller Einsamkeit. 1777 geboren, wächst er in der herkömmlichen Umgebung des preußischen Adels in Frankfurt an der Oder auf. Tradition bestimmt ihn zur Offizierslaufbahn.
Mit 15 Jahren tritt er ins Potsdamer Gardekorps ein, auch dort schon unter den Kameraden unverstanden und einsam. Mit 19 Jahren Leutnant geworden, nimmt er 1799 zum Entsetzen der Familie seinen Abschied. Er spricht vom „Verlust von sieben kostbaren Jahren, die ich dem Soldatenstande widmete, von sieben unwiederbringlich verlorenen Jahren“. Die Rolle des Offiziers hatte ihm den Widerspruch von Individualität und Gemeinschaft deutlich genug werden lassen. Er war unglücklich, zerrissen gewesen, und man darf es als sicher annehmen, daß er für die Skrupel und Konflikte, die er beschreibt, bei den friederizianischen Gardeoffizieren kein Verständnis gefunden haben wird.
So blieb er auf sich zurückgeworfen und allein; allein mit seinen Bedenken, die ihm Soldatentum und Humanität in einem nicht auszugleichenden Gegensatz darstellten: „Ich war oft gezwungen zu strafen, wo ich gern verziehen hätte, oder verzieh, wo ich hätte strafen sollen, und in beiden Fällen hielt ich mich selbst für strafbar. In solchen Augenblicken mußte in mir der Wunsch entstehen, einen Stand zu verlassen, in welchem ich von zwei durchaus entgegengesetzten Prinzipien unaufhaltsam gemartert wurde; immer zweifelhaft war, ob ich als Mensch oder als Offizier handeln mußte. Denn die Pflichten beider zu vereinigen, halte ich für unmöglich.“ Aus den Fesseln seines Standes befreit, bezog er die Universität. Schon der Hauslehrer hatte ihm bescheinigt, er sei „von Liebe und warmem Eifer für das Lernen beseelt“. Nun stürzte er sich „mit Exaltation“ in die Studien, die ihm eine neue Erschütterung bereiten sollten. Er wurde mit der Kantischen Philosophie bekannt und verstand deren erkenntniskritische Einschränkung des metaphysischen Wissens als den Verlust der absoluten Wahrheit schlechthin. Wahrheit, die nach Kant an sich unerkennbar sein soll und sich nur in den Erscheinungen kundgibt, konnte Kleist in seinem Unbedingtheitsdrang nicht als das letzte Ziel der Wissenschaften anerkennen. Ein faustisches Aufbegehren ist in ihm: „… und sehe, daß wir nichts wissen können! Das will mir schier das Herz verbrennen.“
Natürlich hat Kleist die Kantische Philosophie mißverstanden; diese ging ja keineswegs auf einen universalen Skeptizismus aus, sondern wollte die Grenzen vernünftiger Erkenntnis abstecken und befestigen. Daß dieses Mißverständnis nahelag, zeigt jedoch die zeitgenössische Reaktion auf Kant, der als „Alleszermalmer“ gesehen wurde. Kleist ist über diesen Schock (auf den er allerdings innerlich angelegt war) nicht hinweggekommen. Er hat bis zu seinem Tode ein tiefes Mißtrauen gegen die Leistung des Verstandes bewahrt. Aber er wollte nicht auf etwas Sicheres, in Wahrheit Gegründetes verzichten.
Konnte das nicht in der Intersubjektivität der Verstandeserkenntnis liegen, deren subjektiven Charakter Kant und Fichte dargetan hatten, so mußte es in einer im Subjekt selbst sich bestätigenden Erfahrung gesucht werden. Diese Erfahrung des Wahren wurde für Kleist das Gefühl. Kleist rückt damit an den Anfang des deutschen Irrationalismus, gemeinsam etwa mit F. H. Jacobi, den man bereits als Vorläufer für die Lebensphilosophie in Anspruch genommen hat. Indessen machte Kleist sich diesen Irrationalismus nicht leicht. Es wurde daraus nicht die Gefühlsseligkeit der Romantik, nicht der Vorrang des Ungedachten, den Spätere postulierten. Kleist war sich darüber im klaren: das Gefühl gilt nur im Fühlenden selbst, es kann keine Verbindlichkeit über diesen hinaus haben. Wahrheit des Gefühls ist personale Wahrheit des Innenlebens.
In der Wirklichkeit der Außenwelt kann es nur eine Wahrheit geben, die in äußerer Sachlichkeit besteht und darauf verzichtet, das Tatsächliche zu deuten. Wie seine Dramen von der Einsamkeit der Gefühlswelt handeln, so zeugen seine Erzählungen von der Nüchternheit der Tatsachenwelt; da wird von Gefühlen überhaupt nicht berichtet, sondern nur das Geschehen dargestellt. Was die Menschen empfinden, müssen wir an dem Vorgefallenen ablesen. Der Dichter legt sich die Beschränkung auf, das Unsagbare nicht zu sagen.
So brachte die Begegnung mit Kant Kleist zur Form seiner Dichtung. Und der Fortgang seines Lebens befestigte ihn darin. Denn auch weiter gelang es ihm nicht, der unentrinnbaren Einsamkeit seines Herzens zu entfliehen. Die Verlobung löst er, weil seine Braut sich seinen unsteten Lebensplänen nicht anbequemen will. Der Zusammenbruch Preußens 1806 weckt seinen Patriotismus, der ihn in Konflikt mit der vorsichtig zurückhaltenden Staatsgewalt bringt. Seine Dichtungen stoßen auf Ablehnung und Unverständnis. Er gerät in materielle Not. Auch seine Familie stößt ihn zurück; sie hat für den Schwärmer und lebensuntüchtigen Dichter nichts übrig. Krankheiten, wohl meist psychisch bedingt, folgen einander. So wurde Kleist, der schon früh mit dem Gedanken an den Tod gespielt hatte, in die Verzweiflung am Leben getrieben. Mannigfache Motive mischen sich in dem Entschluß, den Freitod zu wählen. Man wird sie nicht entwirren können. Als er dann zusammen mit einer todkranken Frau, zu der er sich in der letzten Lebenszeit hingezogen fühlte, am 21. November 1811 an dem Ufer des Wannsees aus dem Leben scheidet, zog er die letzte Konsequenz aus der Erfahrung, daß das Wesentliche der Existenz nicht mitteilbar ist. An dieser Erfahrung war er als Mensch und als Dichter gescheitert. In äußerster Einsamkeit kann der aus dem Geiste der Sprache schaffende Künstler nicht leben. Denn die Sprache will und erzeugt Gemeinsamkeit.
Kleists Zwiespältigkeit ist der in seiner Person ausgetragene Widerspruch seiner Generation. 1777, ein Jahr nach der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, geboren, ist seine Jugend durch die Spätaufklärung und durch die französischen Revolutionsereignisse geprägt. Das Bürgertum um 1800 nimmt die Errungenschaften der Revolution gern auf; der Code Napoleon bringt einen Fortschritt der Rechts- und Gesellschaftsordnung; die Kontinentalsperre wehrt die englische Konkurrenz ab. Aber französische Vorherrschaft gilt als Tyrannei, wie gerade eben der französische Frühkapitalismus sich nationalstaatlich organisierte. Im Adel verknüpfte sich die nationale Ideologie mit der Klassenhierarchie. Diese Vielschichtigkeit zieht sich auch durch Kleists Weltanschauung. Der innere Widerstand gegen das preußische Militärsystem ist groß, die Klassenübereinstimmung mit den junkerlichen Kameraden im Garderegiment besteht nicht mehr. Der Gegensatz zu Preußen ist eklatant. Jedoch nicht als Befreier von einem überlebten monarchischen Absolutismus, der hier eher auf einer feudalistischen Basis denn auf einer Beamtenhierarchie beruht, kommen die französischen Armeen 1806 ins Land, sondern als Eroberer und Unterdrücker. Das nationale Interesse steht im Widerstreit mit den Belangen des gesellschaftlichen Fortschritts. Übte Kleist einerseits an den Verhältnissen des deutschen Feudalismus die schärfste Kritik, zu der ein deutscher Dichter um 1800 überhaupt durchgestoßen ist (nämlich im Michael Kohlhaas, der das Problem grundsätzlicher erfaßt als etwa der junge Schiller oder Lenz), so wandte er sich andererseits als Patriot gegen die Franzosen und suchte Anschluß an die reaktionäre Romantik, die den Widerstand gegen Napoleon genauso als einen Widerstand gegen den Landesfeind wie auch gegen die Ideale der französischen Revolution auffaßte.
Goethe, für den Napoleon auch der Überbringer gesellschaftlichen Fortschritts war (und der darin nicht anders als Hegel dachte), mußte ein propagandistisches Hetzstück wie die Hermannsschlacht nicht nur literarisch, son14 I. Zwischen Rousseau und Patriotismus dern auch politisch als Greuel empfinden. So ist Kleist nicht nur formal, sondern auch politisch der Gegenpol zur deutschen Klassik und damit zur normsetzenden Epoche der deutschen Literatur.
Dennoch wäre es falsch, ihn zusammen mit der Romantik als Antithese zur Klassik sehen zu wollen. Kleists Dichtung trägt zwar sehr viele romantische Züge. Doch sie bringt den Widerspruch zur Romantik aus sich selbst hervor und in sich selbst zum Austrag, als einen Widerspruch, der in der Sache liegt. Für Kleist gibt es keine romantische Idyllik des Mittelalters, sondern nur die harten Unstimmigkeiten der Feudalordnung, sei es im Michael Kohlhaas oder im Zweikampf, sei es in der Familie Schroffenstein oder im Käthchen von Heilbronn. Wohl spielen Wunder und parapsychologische Phänomene eine beachtliche Rolle; dann aber treten wieder die Antinomien der Traum- und Gefühlswelt scharf umrissen zutage. Dem Gefühlsüberschwang der Dramen steht die extreme Nüchternheit der Novellen gegenüber. Und der Konflikt, in dem seine Menschen stehen und oft genug umkommen, wird dargestellt als ein Selbstwiderspruch, der in den Verhältnissen liegt, deren Ausdruck das menschliche Schicksal ist. Kleist erweist sich, vor allem in seinen Erzählungen, als ein begabter Dialektiker.
2.
Wie Kleist als Dichter zur geschichtlichen Wirklichkeit stand, dürfen wir nicht von einem lautstarken Patriotismus, dem Produkt der anti-napoleonischen Volksbewegung, her beurteilen. Natürlich wirkt der antifranzösische Affekt auch in seine Dichtung hinein; Scheußlichkeiten wie die Hermannsschlacht sind nicht anders denn als hektische Reaktion auf die fremde Okkupation zu verstehen, und daß Kleist dabei jegliches Maß verlor, hängt wohl mit seiner auch in anderen Zusammenhängen durchbrechenden Tendenz zum Maßlosen und Exzessiven zusammen. Dennoch wäre es falsch, Kleist, diesen innerlich zerspaltenen und zur eigenen Umwelt in Widerspruch geratenen Menschen, diesen hypersensiblen Dichter einfach als einen Reaktionär und Junker (wenn auch als einen entwurzelten, „verirrten“) zu klassifizieren.
Ihn damit vom Boden einer fortschrittlichen Literaturgeschichtsschreibung aus zu verwerfen, wäre ebenso falsch, wie ihn mit der gleichen Begründung unter der Perspektive einer konservativen Tradition für den preußischen Aristokratismus in Anspruch zu nehmen. So einfach liegen die Dinge nicht einmal bei dem zwiespältigen Prinz von Homburg, geschweige denn bei so vielschichtigen Werken wie dem Robert Guiskard oder der Penthesilea. Ein Lustspiel wie der Zerbrochene Krug ist von bestem bürgerlich-aufklärerischem Geiste und hinsichtlich seiner gesellschaftlichen Richtigkeit einer Minna von Barnhelm durchaus vorzuziehen. So einfach läßt Kleist sich also nicht auf Klassenschemata abziehen. Wenn Franz Mehring sagte, daß Kleist „sein Lebtag ein preußischer Offizier der alten Schule geblieben ist“, so fällt er einem von der Wilhelminischen (und gar der späteren protofaschistischen) Historie geförderten Vorurteil zum Opfer, in gleicher Weise wie Georg Lukács, der schlankweg behauptet: „Kleist repräsentiert in der schroffsten Weise die romantische Opposition mit allen ihren reaktionären Tendenzen gegen den klassischen Humanismus der Weimarer Periode Goethes und Schillers“.
Kleists Verhältnis zur Romantik ist ein in höchstem Maße widerspruchsvolles. Nimmt er zwar einerseits eine Reihe von romantischen Motiven und Formeigentümlichkeiten auf, so führt er diese doch andererseits kritisch zur Selbstaufhebung. Und angesichts der Formulierungen von Mehring und Lukács stellt sich die Frage: kann man den Kohlhaas, das Erdbeben in Chili, die Verlobung in St. Domingo, ja auch die Marquise von O. einem preußischen Offizier oder einem blinden Romantiker zuschreiben? Die Frage zeigt, wie sehr eine solche Kennzeichnung zu kurz zielt.
Es würde zu weit führen, die realistische Dialektik, die Kleist für die Schilderung historischer Sachverhalte entwickelt, im einzelnen zu beschreiben.
Daß diese im Gegensatz zu seinen persönlichen politischen Auffassungen steht, braucht uns nicht zu verwirren. Georg Lukács hat am Beispiel Balzacs gezeigt, daß historisch richtiger, gestaltender Realismus im Werke durchaus mit bornierten Ansichten des Dichters zusammengehen kann. Bei Kleist zeigt sich dieser Sachverhalt deutlich genug. Hier sei nur ein Beispiel herausgehoben, das Kleists Einsicht in historische Zusammenhänge in ein helles Licht rückt: das Gespräch zwischen Michael Kohlhaas und Luther. Nirgends in der deutschen Literatur findet sich eine so klare, treffende Charakterisierung der historischen Rolle Luthers und der antirevolutionären Ideologie des lutherischen Protestantismus, die für die deutsche Entwicklung zum Obrigkeitsstaat und für die Herstellung des Bündnisses von „Thron und Altar“ entscheidend ist. Die Unterdrückung der Rechte des Kohlhaas zunächst durch die Feudalherren, dann durch den Klüngel am Hofe geht voraus. Kohlhaas hat nach Erschöpfung aller Rechtsmittel, die ihm als Staatsbürger zustanden, zur Selbsthilfe gegriffen; der Aufstand ist ausgebrochen und hat bedrohliche Ausmaße angenommen. Luther hat in Interessengemeinschaft mit der Obrigkeit einen Aufruf erlassen, in dem er Kohlhaas verdammt. Dieser, seines Rechtes gewiß, begibt sich zu dem verehrten geistlichen Oberhaupt. Wir sehen, die Ausgangssituation ist kaum anders als die des Bauernkrieges. Auch da verleugnete Luther die „räuberischen und mordbrennerischen Bauern“. Die Auseinandersetzung, die Kohlhaas mit Luther sucht, ist also eine grundsätzliche. Und als solche ist sie auch von Kleist, als eine Episode, in die Erzählung eingebaut.
Das Gespräch vollzieht sich in einem denkwürdigen Gegeneinander der Positionen. Luthers erste Reaktion, als Kohlhaas, der unangemeldet bei ihm eingetreten ist, sich zu erkennen gibt, ist Ablehnung: „Weiche fern hinweg! dein Odem ist Pest und deine Nähe Verderben!“ Nicht gerade ein christlicher Empfang für einen sich bescheiden Nahenden. Desungeachtet versucht Kohlhaas, seinen Rechtsstandpunkt darzulegen. Er betont seine Bereitwilligkeit, zur Legalität zurückzukehren, wenn man ihm sein Recht nicht verweigert. Luther indessen entgegnet ihm mit Vorhaltungen über seine eigenmächtige Selbsthilfe. Des Kohlhaas Standpunkt ist klar und einfach; es ist der Standpunkt der aufklärerischen Rechtsphilosophie, ja schon des Hobbes ’schen Staatsbegriffs: wer mir von Staats wegen mein Recht nicht zukommen läßt, stößt mich aus der Gemeinschaft des Staates aus und zwingt mich zur eigenmächtigen Aktion. Die Gerechtigkeit ist die Grundlage der Reiche – so schon bei Augustinus: „Was sind Staaten, aus denen die Gerechtigkeit entfernt wurde, anderes als große Räuberhöhlen?“ Man sollte meinen, der Augustinermönch Luther hätte diesen, allerdings noch aus römischem Staatsbewußtsein erwachsenen Satz gegenwärtig. Doch er weiß nichts zu entgegnen als die Aufforderung zum Untertanengehorsam: Die Räte des Landesherrn mögen Unrecht tun, soviel sie wollen – „wer anders als Gott darf ihn wegen der Wahl solcher Diener zur Rechenschaft ziehen?“ Mit dieser rhetorischen Frage entlarvt Luther sich selbst; er gibt dem Bürger kein Recht gegen die Obrigkeit.
So setzt Luther selbst Religion und staatsbürgerliches Recht in einen Gegensatz – einen Gegensatz, der ihnen nicht notwendig, sondern dank der historischen Situation Deutschlands innewohnt. Diese konkrete geschichtliche Sachlage hat Kleist gegen das idealisierende Lutherbild des Götz und gegen die „Einheit von Thron und Altar“ im preußischen Denken scharf kritisch gestaltet. Als Kohlhaas Luther verläßt, ist der Glaubensmann moralisch gerichtet.
Kleist beschreibt nüchtern und ohne Kommentar, wie aus der Verbindung der Kirche mit der Staatsgewalt die Denaturierung des religiösen Auftrags hervorgeht. Eine tiefe geschichtliche (und theologische) Antinomie scheint hier auf, die in der Versöhnung um jeden Preis, selbst um den der Aufhebung der sittlichen und rechtlichen Ordnung, liegt. Stellt der Kohlhaas im ganzen die Dialektik des Rechts in der Gesellschaft dar, das notwendig ins Unrecht umschlägt, wenn es sich gegen die Rechtsverweigerung durchsetzen will, so spitzt die Episode des Gesprächs zwischen Kohlhaas und Luther diese Problematik noch einmal auf das Verhältnis von Staat und Kirche zu. Kleist erweist sich hier (und überall in seinen Erzählungen) als ein großer historischer Dichter.
Versuchen wir, die Struktur dieser Dialektik an einem Beispiel zu erklären, um ihrem theoretischen Ursprung auf die Spur zu kommen. Im Erdbeben in Chili schildert Kleist ein außergewöhnliches Einzelschicksal: Die junge Josephe wird ins Kloster gesteckt, um sie von ihrem Geliebten zu trennen; doch dieser kann sie heimlich besuchen. Und als sie ein Kind von ihm bekommt, trifft beide die unmenschliche Härte des Landesgesetzes. Josephe wird zum Tode verurteilt und ist gerade auf dem Wege zum Hinrichtungsplatz, Jeronimo erwartet im Gefängnis seinen Prozeß und will sich, seines Lebens müde, erhängen, als ein furchtbares Erdbeben, das die Stadt verwüstet, beide auf wunderbare Weise befreit. Die von den Menschen getrennten Liebenden finden sich in arkadischer Landschaft wieder, wo unter den Überlebenden der Naturkatastrophe friedliche Eintracht herrscht. Zum Dankgottesdienst in die Stadt zurückgekehrt, wendet priesterlicher Fanatismus jedoch den leicht entzündbaren Volkszorn auf die beiden, die nun einer grausamen Lynchjustiz zum Opfer fallen. In einem Dreischritt also entfaltet sich die Novelle. Am Anfang steht die Katastrophe des jungen Paares, ihre Verurteilung, ihr Todesweg. Die individuelle Katastrophe wird jedoch durch eine allgemeine, das Erdbeben, unterbrochen und ins Gegenteil verkehrt; die Liebenden scheinen gerettet. Es geschieht die Negation der Ausgangsposition, und diese vollzieht sich durch eine Negativität selbst. Die Ausgangslage (selbst eine negative) wird also, durch ein Negatives negiert, ins Positive gewendet; das dialektische Schema der Negation der Negation liegt zugrunde. Schildert der erste Teil also die Katastrophensituation und ihre Selbstaufhebung in einer neuen Katastrophe, so ist der zweite Teil der Darstellung der Idylle gewidmet. Die Liebenden finden sich wieder und leben in glücklicher Gemeinschaft mit anderen. Die Feindschaft der Menschen ist aufgehoben. Die gemeinsame Rettung aus furchtbarer Gefahr verbindet zu allgemeinem und gegenseitigem Wohlwollen.
Der dritte Teil bringt nun noch einmal einen dialektischen Schritt, nämlich die Negation der Gegenposition und die Wiederherstellung der Ausgangsposition auf neuer Ebene. Die Ausnahmesituation, die „Naturgemeinschaft“ der Geretteten, wird mit der Rückkehr in die Stadt wieder aufgehoben; die Konventionen werden wieder mächtiger als die Urverbundenheit; der Mensch wird wieder zum Feind seines Mitmenschen. Die Liebenden müssen sterben, sobald die traditionellen Vorurteile wieder erwachen. Wir erkennen formal den Dreischritt von Position, Negation und Negation der Negation. Inhaltlich vollzieht Kleist eine Umkehrung, die sozusagen als eine Umkehrung der Vorzeichen zu betrachten ist: weil die Position eine negative ist, wird die Negation (des Negativen) eine positive, und die Negation der Negation ist dann erneut negativ. Unschwer läßt sich in dieser Erzählung ein Gedanke Rousseaus finden: nur der auf den Naturzustand zurückgeführte Mensch ist gut; unter den Bedingungen gesellschaftlicher Verformung wird er böse. In der Normalsituation herrschen gesellschaftliche Vorurteile, die zwei junge Menschen um ihrer Liebe willen dem Henker ausliefern. Die Ausnahmesituation des Erdbebens versetzt die Menschen zeitweilig in einen vorgesellschaftlichen Naturzustand, in dem sie in paradiesischer Eintracht und Unschuld leben und ihre natürliche Güte erweisen. Die Rückkehr zur gesellschaftlichen Normalsituation verwandelt sie wieder in reißende Wölfe, die ihre Mitmenschen dem Vorurteil und der Ideologie opfern: Homo homini lupus. Der Aufbau der Novelle folgt daher dem Schema einer reziproken Verschränkung von Normalsituation und Glück. Nur im exzeptionellen Falle einer Wiederherstellung arkadischer Naturzustände, den Kleist in experimenteller Reinheit durch das Erdbeben schafft, ist ungetrübtes menschliches Glück möglich. Die Gesellschaft steht im Widerspruch zu der Menschlichkeit des Menschen.
Das ist eine Kritik, nicht minder hart als die des Kohlhaas. Dabei gibt es vom Dichter kein Wort der Deutung – Kleist beschreibt Phänomene, so wie sie an sich sind; er enthält sich jeder Deutung und Wertung, aber er schildert die Tatbestände so, daß die ihnen innewohnende Gesetzlichkeit deutlich hervortritt. Er ist gegen sein eigenes unklares ideologisches Bewußtsein ein dialektischer Realist, der den Wesenskern in der Erscheinung sichtbar machen kann.
3.
Dialektik herrscht durchgängig in Kleists Erzählungen. In der Marquise von O. ist es eine subjektive Dialektik des Gefühls, im Michael Kohlhaas die objektive Dialektik von Recht und Rechtsordnung, im Zweikampf die Dialektik von Sein und Schein in der Institution, in der Verlobung in St. Domingo die Dialektik von Schein und Wesen im Gefühl. Die Dramen sind, wie wir an anderem Ort gezeigt haben, aus der Dialektik der Sprache selbst hervorgegangen und in ihrem Handlungskern durch den Selbstwiderspruch alles Sprechens, zugleich aufklärend und verschleiernd zu sein, bestimmt. Als dialektischer Realist steht Kleist nun aber der Weimarer Klassik doch wieder näher als der Romantik, mit der er in anderer Hinsicht so viel gemein hat.
Hans Heinz Holz
Macht und Ohnmacht der Sprache.
AISTHESIS-Verlag
2011, ISBN 978-3-89528-864-7,
174 Seiten, kart. EUR 24,80