Der kanadische Rucksacktourist John Kenwood berichtet, wie er am Nachmittag des 14 März »jung und dumm, aber voller Adrenalin« mit einem Mob von 200 oder mehr Leuten laut »Freiheit für Tibet« brüllend im Zentrum von Lhasa die Bereitschaftspolizei eine enge Straße entlang gejagt hat. »Es war ein erhebendes Gefühl, Teil der heulenden Meute zu sein, die die Polizei in die Flucht geschlagen hatte. Einige Polizisten ließen sogar ihre Schutzschilde fallen, um schneller aus der Reichweite der in ihre Richtung geworfenen Steinbrocken zu kommen. Dann hielt der Haufen der Tibeter an, sie lachten und schlugen sich gegenseitig anerkennend auf den Rücken. Die überschäumende Stimmung hielt aber nicht lange an. Die Menge teilte sich in kleinere Gruppen auf. Sie sammelten Steinbrocken, zogen ihre Messer aus der Scheide und suchten sich das nächste Ziel aus.

»Es sah so aus, als ob sie mit jedem, der vorbei kam, Streit suchten«, erzählte der 19 Jahre alte Kenwood. »Es ging nicht mehr um die Freiheit Tibets«. Was er dann sah, war ein gewalttätiger Amoklauf wie ihn Lhasa seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt hatte. Hunderte von meist jungen Tibetern formierten sich zu herumziehenden Gangs, die chinesische Passanten angriffen, Geschäfte zerstörten und im Laufe von zwei Tagen 19 Menschen töteten und über 600 verletzten. »Während der Randale setzten Plünderer ein Bekleidungsgeschäft in Flammen, wodurch fünf junge Mädchen, die dort bedienten und sich in den ersten Stock gerettet hatten, Opfer der Flammen wurden. Während das Zentrum von Lhasa im Chaos versank, hielten sich die meisten Polizisten auf Distanz.«

Zwei Schweizer Touristen, die sich am 14. März auf einem kleinen Platz in der Innenstadt von Lhasa befanden, berichteten: »Die Menge auf dem Platz wuchs schnell auf über 100 Personen an, einschließlich fünf bis sechs Leuten in Mönchskutten. Die Menge begann, Steinbrocken auf ein Fastfood-Restaurant in der Nähe zu werfen, um es anschließend zu stürmen und die Inneneinrichtung samt Küchenvorräten auf die Straße zu werfen. Feuerwehrleute kamen, um die Flammen zu löschen, aber sie liefen weg, als der Mob ihren Feuerwehrwagen übernahm.« Die beiden Schweizer Touristen entschieden sich, die Szene zu verlassen, kamen aber in eine Straße, in der die Bereitschaftspolizei dem Mob entgegen getreten war. Sie sahen etliche Menschen, die durch Steinbrocken verletzt worden waren.

Claude Balsiger, ein weiterer Schweizer Tourist, erzählte, daß er Zeuge wurde, wie ein älterer Chinese von seinem Fahrrad gezerrt und auf den Boden geschmissen wurde, wo ein Aufrührer mit einem großen Steinbrocken seinen Kopf zertrümmerte. »Einige ältere Tibeter versuchten, ihn aufzuhalten, aber die anderen heulten wie Wölfe. Auf diese Weise unterstützten sie die Aufrührer«, sagte der 25 Jahre alte Balsiger und fügte hinzu: »Jeder, der chinesisch aussah, wurde angegriffen und zusammengeschlagen.«

Übersetzung: Rainer Rupp

Quelle: junge Welt vom 29./30. März 2008
Hier der Link zum Original-Artikel aus der Washington Post.

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