Interview, das die KJÖ und der KSV am 29. Mai 2008 mit Camillo Guevara, dem Sohn des legendären “Che” – Ernesto Guevara, führte. Für die Realisierung bedanken wir uns bei Ernest Kaltenegger (KPÖ Steiermark, Klubobmann), Ingeborg Maria Ortner (Kulturverein CHE), sowie Dr. Werner Wessely (Simultanübersetzung).
Als dein Vater getötet wurde, warst Du erst fünf Jahre alt. Welche Erinnerungen hast Du dennoch an Ernesto Guevara?
Ich war wirklich sehr jung als er starb; und als er zum ersten Mal Kuba verlassen hatte, um den Kampf fortzusetzen, war ich ja erst 3 Jahre alt. Da sie alle ja sehr junge Regierende waren und noch über keinerlei Erfahrung in diesem Metier verfügten, mussten sie natürlich sehr viel arbeiten um diese Erfahrungen zu sammeln. Das beeinflusste dann natürlich auch das Familienleben nachhaltig und sicher auch das Zusammensein mit Freunden, obwohl die Freunde ja auch die politischen Freunde waren. Dementsprechend war natürlich manchmal eine höhere Priorität für das Zusammensein mit Freunden als für das Zusam-mensein mit der Familie gegeben. Er dachte jedoch auch immer daran, dass das eine vorübergehende Erscheinung ist und dass er diese Zeit, die er nicht mit der Familie zusammen sein konnte, irgendwann einmal wieder hätte aufholen können; daher sagte er immer zu meiner Mutter: „Du wirst sehen. Jetzt sind sie deine Kinder, aber warte nur – wenn sie ein bisschen älter und ein bisschen größer sind – dann werden sie auch meine Söhne und meine Kinder sein.“ Leider Gottes wurde er mittendrin aus dem Leben gerissen und 1967 ermordet.
In der öffentlichen Meinung, bedauerlicherweise auch in der öffentlichen Meinung der linksgerichteten Kräfte, ist weit verbreitet, dass Ernesto Guevara aufgrund seiner politischen Tätigkeit und seiner Kampfeinsätze seine Familie vernachlässigt bzw. beiseite geschoben hat und dass er sich nicht um seine Kinder und seine Frau gekümmert hat. Jedoch ist genau das Gegenteil wahr! In Wirklichkeit war er durch und durch ein reiner Familienmensch, für den es nichts Wichtigeres gab als seine Kinder und seine Frau, und der immer nur gezwungen war diesen familiären Kreis, in dem natürlich auch seine Eltern und die übrigen Vor- und Nachfahren mit eingebunden waren, zu verlassen. Von
seiner Einstellung her war er wirklich ein reiner Familienmensch, ein liebender Vater und ein ganz hervorragender, von seiner Frau hoch verehrter und geliebter, Ehegatte.
Und noch eine Wahrheit: Einen echten Revolutionär wird es nur dann geben, wenn er von Liebe durchdrungen ist; denn die eigentliche Substanz, aus der ein echter Revolutionär besteht, das ist nur Eines – und das ist die Liebe!
Was bedeutet für Dich, dass Jugendliche auch heute noch „Che“ als Idol sehen? Wie stehst Du selbst dazu und besteht die Gefahr, dass durch die Kommerzialisierung die Person „Che“ entpolitisiert wird?
Ich glaube, hier gibt es eine bestimmte Tendenz, die Idee, die Che Guevara verkörpert, von der Geschichte zu trennen, um ihn in ein eiskaltes steinernes Idol zu verwandeln. Viele neigen dazu, Che Guevara zu einem Mythos hochzustilisieren. Ich meine vielmehr, dass er ein Symbol ist, und zwar ein Symbol für Widerstand, Rebellentum und für Einsatz für das Gute, also den Kampf gegen das, was man weitaus besser machen könnte. Man will ihn in ein rosarotes Kleid hüllen, das dann für jeden kompatibel ist, obwohl Che eigentlich immer eine klare Position im Leben eingenommen hat. Infolgedessen, dass er eben diese klare Position auch immer vertreten hat, starb er letztlich; denn er dachte ja nicht daran, dass er sterben könnte. Es ist natürlich möglich, dass er durch die Kommerzialisierung viel von seiner Leuchtkraft verliert. Denn man trifft immer wieder auch Leute, die ein Che Guevara-T-Shirt oder einen Che Guevara-Pullover tragen, und der festen Meinung sind, dass das irgendein Rockstar oder sonst irgendein Sänger bzw. Filmstar ist. Das heißt aber andererseits nicht, dass sich nicht auch diese Leute zu einem späteren Zeitpunkt vielleicht doch für die wahre Geschichte hinter meinem Vater interessieren und ihn und auch seine Geschichte etwas besser kennen lernen, als dies heutzutage der Fall ist. Und ganz egal ob man jetzt seine Ideen und Ideale teilt oder nicht, es ist jedenfalls ein ganz wichtiger Ausgangspunkt.
Es ist ganz einfach ein zweischneidiges Schwert: Diejenigen, die danach trachten, ihn zu einem nicht-subversiven Idol hochzustilisieren, aber eigentlich herunter zu stilisieren, die werden wahrscheinlich genau das Gegenteil ernten; denn er war hoch subversiv.
Dazu kommt, dass es natürlich riesige Unterschiede zwischen Jugendlichen aus der ersten Welt und solchen aus der dritten Welt gibt. Natürlich gibt es auch in der ersten Welt Jugendliche und Leute mit Erfahrung, die sich mit diesem Thema auskennen und die auch von ihrer Einstellung her ganz positive Menschen sind. Und was man vielleicht doch in der ersten Welt noch lernen und erfahren wird müssen ist, dass man in der dritten Welt seine Erfahrungen über Leid und Leiden macht; also man lernt nicht aus Büchern, man lernt vom Leben selbst und das ist rau und hart und man leidet dabei. Mein Vater wird auch sehr oft als Banner für die gerechte Sache voran getragen; und das beweist meiner Meinung nach deutlich, dass die Leute mehr und mehr draufkommen, zu welcher Art Mensch und in welchen Schützengraben mein Vater tatsächlich gehört, nämlich in den der Gerechtigkeit.
In den bürgerlichen Medien spricht man immer wieder davon, dass Ernesto Guevara und Fidel Castro verschiedene politische Interessen verfolgten und sich deren Wege daher trennten. Wie siehst Du das?
Tja, das ist eine sehr wichtige Frage! Die Vereinigten Staaten hatten großes Interesse daran, in der veröffentlichten bürgerlichen Meinung ein Bild zu zeichnen, das aufzeigen sollte, dass der bewaffnete Kampf für die Revolution, der ab 1965 auch in andere Länder des Subkontinents hinausgetragen wurde, nicht deshalb stattfand, weil es darum ging, eine großartige Idee zu verbreiten, sondern aufgrund eines Gegensatzes, den Che Guevara zu Fidel Castro hatte; dass er also quasi gezwungen war, ins Ausland zu gehen, um dort weiterzukämpfen, weil er im Inland für Fidel vielleicht zu mächtig oder zu unbequem geworden war. Das ist jedoch eine reine Fiktion, die von den Vereinigten Staaten zunächst einmal mit Nachdruck in die Welt gesetzt und dann gefördert wurde, um ein konfliktives Thema zwischen Fidel und meinem Vater aufkommen zu lassen, das so – und das weiß ich nicht nur aus Erzählungen sondern auch aus eigener Erfahrung – niemals war. Es war wirklich ein reines idealistisches Hinaustragen der kubanischen Revolutionsidee in andere Länder. Ein Gegensatz zwischen meinem Vater und Fidel hat nie, auch nicht nur annäherungsweise, bestanden.
Als Che in den Kongo ging, wurde diese Kampagne vielleicht ganz einfach deswegen vom Zaun gebrochen, um draufzukommen, wo sich El Che überhaupt aufhielt; denn die Vereinigten Staaten wussten ja nicht, wo er war. Gleich 1965, bald nach seinem Aufbruch, las Fidel den heute sehr berühmten und auch gehüteten Abschiedsbrief, also eigentlich nur den Brief „Ich fahre jetzt dort und dort hin“, öffentlich vor, damit klargestellt ist: Es gibt hier keine Ruptur und keinen Gegensatz zwischen Fidel und Ernesto Guevara! In der veröffentlichten bürgerlichen Meinung, konnten die Amerikaner jedoch behaupten, Fidel hätte Che Guevara mit Absicht ins Ausland geschickt, damit er ihn loswird. Er hätte ihn sozusagen eliminiert.
Als Che später in Bolivien war, konnte er über den bolivianischen Staatsrundfunk selbst hören, wie die dort vorherrschende bürgerliche – von den USA gemachte – Meinung sagte, jetzt hätte er ihn nach Bolivien geschickt, weil er ihn dort überhaupt liquidieren will. Dabei war das eine rein gelinkte Information, denn das stimmte so ganz sicher nicht. Und wenn man das Tagebuch, das mein Vater in Bolivien führte, genau studiert, dann sieht man eine ganze Serie von Kommentaren, die genau mit diesen Nachrichten zu tun haben.
In diesem Zusammenhang gibt es eine Anekdote aus der Zeit, als El Che aus dem Kongo zurückgekehrt war und sich in Kuba auf seinen Einsatz in Bolivien vorbereitete. Da wurde er von einer mexikanischen Intellektuellen interviewt, die einen Artikel für eine mexikanische Zeitung schrieb. Diesen Artikel zeigte sie vor der Veröffentlichung meinem Vater, worauf er ihn handschriftlich mit Kommentaren versehen hatte. Dort hatte er dann unter anderem Folgendes gesagt: „Die Revolution ist nicht deswegen etwas Besonderes, weil es die Revolution von Juan oder sonst jemandem ist. Die Revolution ist nichts anderes als die Summe vieler verschiedener Ideen, Strömungen und Gedanken, die alle in eine bestimmte Richtung gehen, und nur das ist es, was eine Revolution reich und auch erfolgreich macht. Es ist nicht der einzelne. Es ist auch nicht die Gesamtheit der Menschen. Es ist die Gesamtheit der Ideen und nur durch die kann eine Revolution leben und erfolgreich sein.“
Also, weshalb verließ nun El Che, ein Mann der einen bedeutenden Posten innerhalb der kubanischen Revolution ausfüllte, Kuba? Er war Industrieminister und gleichzeitig der Anführer der Westarmee in Kuba. Als kubanischer Vertreter hielt er Kontakte zu den übrigen Befreiungsbewegungen auf der ganzen Welt aufrecht und als bevollmächtigter Botschafter der Revolution war er auf der ganzen Welt akkreditiert. Weiters war er ein bedeutendes Mitglied der kubanischen Revolutionspartei, zu diesem Zeitpunkt schon der Kommunistischen Partei Kubas. Schlussendlich war er natürlich auch einer der Ideologen dieser Revolution. Wieso verließ so ein Mann Kuba?
Es ist im Grunde ganz einfach: Er hatte nämlich eine revolutionäre Theorie, eine Art Doktorarbeit. Zum Beispiel, die Sowjetunion hatte ja die These aufgestellt, dass der eigentliche fundamentale Gegensatz nur zwischen den Ländern des realsozialistischen Blocks und den Ländern des kapitalistischen Blocks existierte. Dieser These mussten sich – der Meinung der Sowjetunion nach alle unterordnen. Deshalb gab es in Ländern, in denen Konflikte herrschten, zum Zwecke des Machterhalts im eigenen Land Konzessionen der anderen Seite gegenüber.
Mein Vater war jedoch fix der Überzeugung, dass der tatsächliche fundamentale Konflikt nichts anderes war als der Konflikt zwischen den Ausgebeuteten und den Ausbeutern. Daher war es für ihn auch wichtig, jegliche Befreiungsbewegung, Unabhängigkeitsbewegung, oder jeden linksgerichteten Kampf gegen die Ausbeuter zu unterstützen, ganz egal in welcher Ausprägung und in welchem Teil der Welt. Er meinte, dass die Hauptursache für diese Konflikte darin lag, dass der Kapitalismus sich auch weiter entwickelt hatte und schon zu seiner höchsten Form, dem Imperialismus, gelangt war, was von ihm absolut abgelehnt wurde. Sein Ziel war dabei Folgendes: (Nord-)Vietnam hatte ja schon bewiesen, dass die damals – wie auch heute – stärkste Supermacht sie nicht schlagen konnte. Mein Vater wollte nun als Ziel erreichen, dass es nicht nur ein Vietnam gibt, sondern zwei, drei, vier oder mehrere. Denn, nachdem eine Supermacht mit einem kleinen Land wie Vietnam nicht fertig wurde, hätte es ohnehin vollkommen unmöglich sein müssen, mit mehreren dieser revolutionären und gegen eine Supermacht gerichteten Länder fertig zu werden. In solchen Ländern, die ein zweites, drittes usw. Vietnam darstellen würden, konnte er aufgrund seiner Guerillero-Erfahrung eine beratende Funktion einnehmen oder den Kampf selbst organisieren; und er wollte auch an diesen Bewegungen, die den Imperialismus an der Wurzel bekämpften, teilhaben. Das hat natürlich auch mit dem ganz eigenen Charakter des El Che und seiner Philosophie zu tun, denn er war einer, der nicht von der Bande aus zuschauen konnte wie der Stier bekämpft wird. Wenn er von etwas überzeugt war, musste er mitten im Geschehen stehen und mithelfen, mitkämpfen und auch mitunterstützen. Er konnte daher auch nicht etwa zu seinen Kampfgefährten sagen „Geh Du hinaus oder geht Ihr hinaus und setzt den Kampf fort“, sondern er musste ein Beispiel geben und mit vorne in der ersten Reihe dabei sein.
Ein weiterer wichtiger Grund, warum er den Kampf nach außen getragen hatte, war der, um die Gefahr des Angriffs auf Kuba zu reduzieren. Denn, in den 60er Jahren war die Möglichkeit, dass Kuba angegriffen wird, riesig; daher musste natürlich die Bastion Kuba um jeden Preis gehalten werden, und die Chance, dass Kuba angegriffen wird, war umso geringer, je mehr „Außenposten“ der linken Revolutionsbewegungen man schaffen konnte. Das heißt, er kämpfte im Ausland für Kuba, wobei das auch der Ort war, an dem seine Familie zurückgeblieben war und sobald Du einmal ein Kind hast, weißt Du, dass es nichts Wichtigeres gibt als eben dieses Kind.
Schon von daher ist es auch eines der vielen Elemente, die die Philosophie und das Denken meines Vaters geprägt haben. Als er beispielsweise zum allerersten Mal mit Fidel zusammentraf, und zwar in Mexiko, war eines seiner ersten Aussagen – wenn nicht überhaupt seine erste – die, dass er nur eine einzige Bedingung stellte, um in die Revolutions-bewegung einzutreten und den Kampf dort aufzunehmen. Diese war: „Sollte diese Revolution von Erfolg getragen sein, dann ist meine einzige Bedingung die, dass ich den Kampf auch nach dem Erfolg in Kuba weiter fortsetzen kann!“ Fidel sah natürlich ein, dass auch nach dem Erfolg einer Revolution, dieser Kampf weiter fortgesetzt werden müsste. Er hatte aber auch erkannt, dass die Situation noch ziemlich unausgereift, ja sogar hoch gefährlich, war. Daher war er als Pragmatiker – wenn man so will – durchaus der Überzeugung, dass es jammerschade wäre um ein derartiges politisches und menschliches Talent wie Che Guevara. Wenn dieser in einer für die Gesamtsache eher unbedeutenden Schlacht bzw. in einer nicht gerade bedeutenden Situation so zu schaden gekommen wäre, dass er vielleicht sogar sein Leben verliert, wäre das dann eben eine „Verschwendung“ gewesen. Daher redete er immer wieder auf ihn ein und bat ihn, sich ein bisschen zurückzuhalten und zu warten bis die Situation reifer wird, sodass es dann wirklich ein Erfolg wird. Denn so ein Talent wollte Fidel auf keinen Fall verschwenden.
Derjenige, der Che Guevara letztendlich wieder überzeugte, aus dem Kongo zurückzukehren, war ja ausgerechnet Fidel, denn er hatte zu diesem Zeitpunkt große Angst, ihn zu verlieren. Che Guevara sagte damals immer: „Nein, ich muss dort bleiben und den Kampf fortsetzen. Wenn wir dort heraus gehen, dann kommen wieder die Söldner und die von den Imperialisten bezahlten internationalen Söldnerheere, die dann die Situation wieder umdrehen.“
Trotzdem hat Kuba selbst nach Che Guevaras Tod den Kampf für die Revolution in Angola und anderen Ländern fortgesetzt. Auch auf die Situation in Bolivien hat die kubanische Regierung großen Einfluss genommen, aber da könnten wir natürlich noch Stunden weiterreden.
Wie geht es nach dem Abgang Fidel Castros weiter auf Kuba?
Genau diese Frage hat man mir schon sehr oft gestellt. Als Fidel noch seinen Posten innehatte, hat man mich immer wieder gefragt: „Was wird passieren, wenn es Fidel nicht mehr gibt? Wie geht es dann weiter mit Kuba?“ Und die Frage höre ich immer seltener, denn mehr oder minder sehen die Leute immer klarer, was in Kuba eigentlich vor sich geht.
Wir kämpfen wirklich fest und stark darum, unser nationales Projekt weiterzuführen und zu Ende zu führen. Der Sozialismus in Kuba ist wichtig und natürlich wird er auch – zu Recht –als Synonym für Kuba gesehen, aber es geht hierbei um viel mehr: Aus unserer ganzen Geschichte und unserer Kultur geht eindeutig hervor, dass die Bewegung, die es in Kuba seit jeher schon gegeben hat, eigentlich auf die nationale Integrität, auf das Erreichen der Menschenrechte und auf das Erreichen einer gewissen ausgewogenen Gesellschaft gerichtet ist. In diesem durchaus sehr nationalen, wenn nicht sogar nationalistischen Kontext, kann der Sozialismus helfen, ist aber nicht Selbstzweck. Es geht rein um eine Verbesserung der Gesellschaft, die derzeit durchaus Verbesserungsmöglichkeiten aufweist. Es ist nicht so, dass wir jetzt schon eine ideale Gesellschaft haben. Man muss immer weiter kämpfen, um dieses Ideal zu erreichen. Und das hat nicht unbedingt nur mit Sozialismus oder Kommunismus zu tun.
Sehr viel von allem, was mit der Geschichte Kubas vor der Revolution zu tun hat, viel – wenn nicht fast alles – von dem, was derzeit in Kuba passiert, und all das, was in Zukunft in Kuba passieren wird, ist durch diese 90 Meilen determiniert und definiert, die uns von den USA trennen. Es sind 90 Meilen, die praktisch jeden Lebenswinkel beeinflussen und sie sind allgegenwärtig. Das Problem ist nämlich, dass die Yankees nach wie vor kein Rezept gefunden haben, um dieses alternative Konzept zu besiegen, das Kuba seit jeher schon und nicht erst seit der Revolution geprägt hat. Sie bekämpfen es aber nach wie vor und wollen keinen Stein auf dem anderen lassen. Wenn wir es nicht schaffen, dieses alternative Konzept weiterzuführen, und vielleicht auch zu einem guten und besseren Ende zu führen, wird nichts von unserer Kultur, nichts von unserem Land und nichts von unseren Menschen mehr übrig bleiben, und wir werden in diesem „Yankee-Konsumrausch“ einfach untergehen und ebenso eingeebnet werden, wie viele andere Gesellschaften, wo es den Yankees schon gelungen ist, das zu erreichen.
Die Imperialisten behaupten immer wieder, dass Kuba eine Diktatur ist. Was sagst du dazu?
Diktatur steht bei uns in einem anderen Kontext. Das Wort Diktatur ist in Kuba ausschließlich geprägt von den Begriffen „Herrschaft“ und „Klassenkampf“. Entweder herrscht die eine Klasse oder es herrscht die andere Klasse. Und bei uns hat Diktatur keinen negativen Beigeschmack, sondern bedeutet schlicht und einfach – im technischen Sinne des Wortes – „Herrschaft“. Es hat also keineswegs jenen Beigeschmack, den klassische Diktaturen so haben, nämlich Meinungsunterdrückung, Folter, Genozid und viele andere Dinge, die mit dem Begriff, den wir von Diktatur haben, nichts gemein haben.
Jetzt gibt es natürlich jene, die behaupten, unser System sei vielleicht eine Diktatur. Ich sage: Das ist ganz sicher keine Diktatur und im Zusammenhang mit dem Klassenkampf gilt das, was ich gerade gesagt habe! Im Zusammenhang mit dem täglichen Leben sieht das durchaus so aus, dass Kuba eine Demokratie ist, und zwar eine ganz normale Volksherrschaft! Eine Demokratie in diesem Sinne kann man auch täglich erleben, jedoch ist es genauso klar, dass die Demokratie in Kuba sich in einem Schützengraben befindet. Damit meine ich, dass niemand behaupten kann, dass Kuba nicht seit 50 Jahren im Kriegszustand ist.
Wir halten auch die Meinung aufrecht, dass unsere Demokratie viel wahrhaftiger und viel echter ist, als viele andere Systeme, die sich Demokratien nennen. Sie ist nämlich keine repräsentative Demokratie, sondern eine partizipative Demokratie. Denn Demokratie an sich ist ja ein Kind, das schon mit umfangreichen Geburtsfehlern auf die Welt gekommen ist. Allein in Athen gab es für jeden Bürger mit Vollrechten 14 Sklaven. Das ist natürlich ein schwerer Geburtsfehler und heutzutage gibt es das auf dieser Welt immer noch.
Das zeigt auch das Beispiel der USA. Da gibt es einen Präsidenten, der maximal mit 30 bis 40 Prozent der Stimmen gewählt wurde, und der dann ganz einfach hergeht und in einem weit entfernten Land einen Krieg vom Zaun bricht, obwohl ihn niemand gerufen hat. Für uns reduziert sich also eine solche Demokratie auf das Recht, in einem anderen Land immer dann, wenn Du dort willst, einen Krieg anzufangen und einen Krieg zu führen.
Weiters zeigt auch das Beispiel der UNO, dass sie eigentlich ein – sagen wir es einmal vor-sichtig – durchaus korruptes System ist. Es können zum Beispiel im Sicherheitsrat nur fünf Länder mit ihrem Veto etwas bestimmen, wo die gesamte UNO-Generalversammlung völlig gegenteiliger Meinung sein kann. Das sind 150 Länder oder mehr. Wenn allerdings die fünf Länder des Sicherheitsrates dafür sind, passiert das einfach – oder umgekehrt. Das ist eigentlich ein solches System, wie wir es nicht wollen.
Es wird immer wieder gesagt, dass vor 1959 in Kuba eine eindeutige Demokratie die Herrschaft innehatte. Da ist auch kein Zweifel daran. Die gab es wirklich, aber es war eine bourgeoise Demokratie, genau so wie die in Athen sich ebenfalls Demokratie nannte, aber ebenfalls eine bourgeoise Demokratie war. In Kuba fand daher eine Volksrevolution statt, eine partizipative Demokratie, weil man mit dem Wahlzettel in der Hand einfach nichts ändern konnte. Und 90 Meilen entfernt von der stärksten und aggressivsten Supermacht, die die Welt je gesehen hat, kann man schlicht und einfach keine Revolution machen, wenn sie nicht ehrlich ist; das kann niemals funktionieren. Wenn es im gesamten Volk keinen verwurzelten Gedanken und Willen gibt, diese Revolution fortzusetzen, kann man sie natürlich auch nicht halten, und erst recht nicht so lange.
Es gibt also Demokratien, in denen Überfälle, Belagerungen oder vielleicht sogar bürgerkriegsähnliche Zustände herrschen. Das ist eine reale Situation und man kann immer wieder sehen, dass es in so genannten „tatsächlichen“ westlichen Demokratien zu Übergriffen bzw. aggressiven Handlungen kommt. In Kuba war das bisher eigentlich genau umgekehrt: Da gab es das bisher noch nie und das wird es auch in Zukunft nicht geben. Man darf hierbei natürlich nicht blauäugig sein; es ist schlicht und einfach so, dass uns unsere Revolution – so wie wir sie gemacht haben – teuer zu stehen gekommen ist. Allein unsere Freiheit hat 20.000 Menschenleben gekostet, denen wir verpflichtet sind. Es geht nicht nur um die Freiheit, es geht auch um die ganze Nation. Das heißt, wenn wir den Kampf aufgeben oder wenn wir den Kampf nicht weiterhin mit allen Mitteln fortsetzen, wie wir das bisher getan haben, dann werden wir ausradiert werden und uns wird es als solches nicht mehr geben.
Unser Sozialismus kann nur funktionieren, wenn es eine wahrhaftige Demokratie gibt. Die ist natürlich in Kuba auch nicht perfekt, aber es funktioniert so: Zunächst einmal schlagen bei uns nicht etwa die Parteien die Kandidaten vor, sondern die Massenorganisationen. Die Regierung wird auch nicht vom Parlament gewählt. Sie wird, wie auch alle Regierenden, von den Gemeinden bestimmt. Die Regierenden sind nicht etwa eine Person, wie z.B. Fidel früher oder Raoul jetzt, sondern das sind 32 Personen. Also die Gemeinde sagt, wen sie als Oberregierer haben will und wenn jemand, zum Beispiel ein Pro-vinzgouverneur im weitesten Sinne – weil das ist bei uns auch wieder anders – gewählt wird, dann wird er ebenfalls von der Gemeinde gewählt. Genauso ist es z.B. bei Bürgermeistern auf Gemeindeebene. Da das alles also von der Gemeindeebene ausgeht, hat es eine durchaus breite Basis und damit komme ich wieder zum Beginn der Antwort zurück, die ich gerade gegeben habe. Es ist also so, dass unsere Demokratie ohne den breiten Konsens in der Bevölkerung auf Gemeindeebene einfach nicht existieren kann. Es gibt jetzt jede Menge technische Einzelheiten, wie bei uns die Wahlen zum Beispiel ablaufen aber das würde natürlich zu weit führen. Deshalb nur einige wenige Beispiele: Es sieht so aus, dass bei uns die Wahlen keine Pflichtwahlen sind. Niemand muss zur Wahl gehen, es ist alles freiwillig. Die Urnen werden auch nicht etwa von schwer bewaffneten Militärs bewacht. Sie werden zwar ausgezählt von Erwachsenen, aber bewacht und zusammengetragen werden sie auch von Kindern, die gar nicht wählen dürfen. Für die ist es eine Ehre,
und sie freuen sich, wenn sie die Wahlurnen dann zur Auszählung bringen dürfen. Alles ist also rein freiwillig.
Im Übrigen kann jemand, der irgendeinen politischen Posten innehat nicht so wie hier – jedenfalls wenn er gewählt ist – seine Legislaturperiode durchdienen, unabhängig davon was passiert oder welche Skandale mit dieser Person verbunden sind. Der gewählte Volksvertreter muss mit seinem Volk, nämlich genau mit denjenigen, die ihn eben zu diesem Posten bestimmt und gewählt haben, immer Rücksprache halten. Dies geschieht richtig in Versammlungen, die durchaus einer direkten Demokratie entsprechen. Wenn diese Versammlung dann sagt, dass derjenige seinen Posten nicht so erfüllt, wie die Versammlung sich das vorstellt, dann kann sie ihn auch vor Ablauf seiner Legislaturperiode jederzeit austauschen. Er verliert dann seinen Posten und ein anderer kommt an seine Stelle; und das ist zu jedem Zeitpunkt möglich. Also auch zwei Wochen nachdem einer gewählt worden ist, kann man ihn schon wieder seines Postens entheben. Das funktioniert bei uns genau so und ist wirklich eine schöne Sache der direkten Demokratie.
Wie schätzt du die derzeitige Linksentwicklung in Südamerika ein und welche Perspektiven ergeben sich deiner Meinung nach daraus für Europa?
Ich bin zwar kein Experte, aber ich gebe meine Meinung als Teil des kubanischen Volkes zum Besten wieder.
In Lateinamerika entwickeln sich sehr interessante Prozesse. Über das Urnenwahlverfahren sind einige im Volk sehr verwurzelte und vom Volk getragene Volksvertreter an die Macht gekommen. Diese werden sich nur dann halten können, wenn sie authentisch sind, revolutionär sind,wenn sie wirklich vom Volk getragen werden – und wenn sie nicht ermordet werden. Das sind die eigentlichen Herausforderungen, die sehr schwierig sein werden. Es wird auch sehr schwer sein, sich vor einem politischen Mord zu schützen.
Es gibt eine sehr harte Aggression gegenüber Venezuela, Ecuador und Bolivien. Diese Aggression ist ganz klar und völlig hemmungslos, aber die Völker dieser drei Länder stellen ein sehr großes Arsenal an gutem Willen und an großer Menschlichkeit dar.
Durch den sozialen und freiwilligen Zusammenschluss der Völker der genannten sowie der angrenzenden Länder ist es nun gelungen ist, das sog. ALCA, welches eine Art kapitalistisch-imperialistische Wirtschaftszone für ganz Süd- und Mittelamerika hätte darstellen sollen, zu verhindern. Die Linksbewegungen in diesen Ländern haben nämlich gesagt, sie wollen, das Ökonomische dem Sozialen unterordnen und haben damit zum Beispiel auch ALBA geschaffen. Dies ist wiederum nichts anderes als die “Bolivarische Alternative für die Völker unseres Amerikas“ für einen sozialen Zusammenschluss Südamerikas beziehungsweise der daran interessierten Länder, mit folgendem Ziel: „Wir haben gewisse Rohstoffe, die ihr nicht habt. Diese geben wir euch zu einem wirklich sehr amikalen Preis und ihr gebt uns dafür etwas, was wir nicht haben.“ Das alles soll jedoch auf eine Verbesserung des sozialen Umfelds, des Zusammenlebens und des Lebensstandards der Menschen in diesen Ländern, und nicht auf die kalte kapitalistische Gewinnmaximierung, gerichtet werden.
D.h., es gibt durchaus Länder, in denen eine Idee der Integration vorherrscht, welche von ganz unten her stattfindet. Aus diesem Grund wird das auch erfolgreich sein, denn die Idee, dass sich diese Länder zusammenschließen, sich gegenseitig helfen und gemeinsam zu einer Verbesserung ihrer gesellschaftlichen und ihrer Lebens-Umstände, wird wirklich vom Volk getragen. Ich sehe, dass das gerade in Kuba passiert und auch vorher passiert ist; und das ist eben nichts anderes als eine geschichtlich zwingende Folge unserer Unabhängigkeitskriege und unserer Unabhängigkeitsbestrebungen. Diese Kraft aus den Unabhängigkeitskriegen und -Bewegungen wird auch noch weiterhin unsere Zukunft prägen.
Ich sehe jedoch keinerlei Zukunft in Mittel- oder Südamerika, wenn wir nicht zu einer Zusammenarbeit und einem Zusammenschluss bzw. einem brüderlichen Zusammenwirken kommen. Ohne eine derartige Einigung und Einheit der südamerikanischen Völker sehe ich keine Chance für Mittel- oder Südamerika.
Wenn Du mich jetzt fragst, wie ich die Beziehungen zwischen Kuba und Europa sehe, dann denke ich, dass Ihr mir vielleicht mehr sagen oder mehr erzählen könnt, als ich das könnte. Ich sehe zumindest einen großen Unterschied zwischen den europäischen Regierungen oder Regierenden einerseits, und den europäischen Völkern auf der anderen Seite. Wahrscheinlich gibt es über das europäische Volk als solches gar nicht so viel zu sagen außer, dass alles, was dem kubanischen Volk zugute kommt, natürlich auch dem europäischen Volk zugute kommt und umgekehrt. Da bin ich mir auf Regierungsebene aber nicht ganz so sicher – und das ist gar nicht ironisch gemeint, sondern die Wahrheit. Ich denke jetzt nur laut darüber nach: Sollte es Lateinamerika schaffen, sich zu einen und zu vereinen, was natürlich eine langfristige Angelegenheit ist, dann würde das die nordamerikanische Macht sehr schwächen. Was würde die USA da machen? Würden jetzt die Europäer oder die europäischen Regierungen bereit sein in einer Art Kreuzzug, das geeinte Süd- und Mittelamerika – bzw. Lateinamerika ganz allgemein – in einem Kreuzzug gegen die USA zu unterstützen? Denn eine Tatsache sehe ich schon auch ganz klar: Obwohl die europäische Union oder Europa an sich ein unglaublicher Riese ist, so steht dieser Kollos doch auf tönernen Füßen. Und immer, wenn die USA einen Komplizen für irgendeinen Krieg brauchen, so oder so finden sie immer irgendeinen in Europa, der sie dabei unterstützt. Sollte es dann doch so sein, dass durch diesen Zusammenschluss Lateinamerikas und Europas die US-Regierung so geschwächt wäre, dass dann unter Umständen vielleicht sogar eine Invasion der USA stattfinden würde, dann wäre das ja nicht die erste Invasion, die die USA betrifft. Die erste Invasion hat sie schon hinter sich gebracht und die ist auch von Europa ausgegangen, denn sie haben ja die Invasion zunächst einmal nach Uramerika gebracht.
Trotzdem, sei es wie es sei, ich bin immer auf der optimistischen Seite und ich sehe das Glas immer fast ganz voll. Die Welt dreht sich immer schneller. Es ist ganz schwer weiter als nur kurzfristig in die Zukunft zu schauen, wobei das eigentlich ohnehin niemand kann. Man kann einfach keine wahren Voraussagen treffen.
Abschließend noch eine Frage! Uns würde noch interessieren, wie deine politische Tätigkeit heute auf Kuba aussieht?
Also ich bin kein aktiver Politiker, sondern arbeite im Studienzentrum für El Che Guevara. Unsere Ziele sind zwei: Einerseits wollen wir genau das Werk von Che Guevara studieren und erforschen. Andererseits wollen wir seine Ideen und sein Werk verbreiten. Aber natürlich ist das Vermächtnis von El Che in einem unwahrscheinlich großen politischen Kontext zu sehen. Außerdem macht in Kuba ohnehin jeder Politik. Im Augenblick, wo wir unsere Alternative vorantreiben und wo wir um unsere alternative Bewegung kämpfen, erneuern wir uns eigentlich immer wieder und wieder und können nur danach trachten, diese Alternative fortzusetzen. Denn wir glauben daran, dass das die bessere Lebensform ist, und dass man so auch zu einem besseren Menschen gelangen kann.
Interview geführt und vorbereitet von Robert Krotzer und Goran Lovric am 29. Mai 2008.
Simultanübersetzung: Dr. Werner Wessely.