Marxismus und Bolivarianismus (André Scheer)
Die tiefgreifenden Veränderungen, die seit rund sechs Jahren in Venezuela vor sich gehen, stoßen auch in Europa auf immer mehr Interesse. Der Prozess, der von seinen Protagonisten ehrgeizig als “Bolivarianische Revolution” bezeichnet wird, hat die staatlichen und ökonomischen Strukturen des südamerikanischen Landes durchgeschüttelt und die Klassengegensätze offengelegt. Es sind vor allem die – mehrheitlich weißen – Angehörigen der Mittel- und Oberschicht Venezuelas, die sich den unter der Führung des Präsidenten Hugo Chávez vorangetriebenen Umgestaltungen entgegenstellen. Die Mehrheit der Bevölkerung jedoch unterstützt die Entwicklung, wie sich beim Referendum über eine vorzeitige Abberufung des Präsidenten Chávez am 15. August zeigte und sich auch bei den – nach Redaktionsschluß stattgefundenen – Regionalwahlen vom 31. Oktober abgezeichnet hat.
Doch was charakterisiert den Prozess, den Venezuela erlebt. Schon die Frage, ob es sich tatsächlich, wie von Chávez und seinen Anhängern proklamiert, um eine Revolution handelt, provoziert kontroverse Diskussionen. Noch größere Unsicherheit gibt es vor allem außerhalb der lateinamerikanischen Hemisphäre über den Charakter des “Bolivarianismus” oder “Bolivarismus”[i].
Dieser Begriff bezieht sich auf Simón Bolívar (1783-1830), unter dessen Führung die heutigen Staaten Venezuela, Kolumbien, Panama, Ecuador und Bolivien ihre Unabhängigkeit von der spanischen Kolonialherrschaft erlangten. Neben Bolívar gehören zum “Baum mit den drei Wurzeln”, als den Chávez den Bolivarianismus beschreibt, allerdings zumindestens noch zwei weitere Persönlichkeiten. Zum einen Simón Rodríguez (alias Samuel Robinson, 1769-1853), den Lehrer und lebenslangen Freund Bolívars, und Ezequiel Zamora (1817-1861), der “General des souveränen Volkes” im venezolanischen Bürgerkrieg des 19. Jahrhunderts.
Aber kann Simón Bolívar überhaupt Quelle und Inspiration für eine fortschrittliche Entwicklung sein, eine Entwicklung, die auch von den venezolanischen Kommunistinnen und Kommunisten als ein revolutionärer Prozess verstanden wird? Oder haben nicht vielmehr die Vertreter der anti-kubanischen Mafia in Miami Recht, wenn sie den Marxisten ins Stammbuch schreiben, Marx selbst sei eigentlich ein “Escuálido”, ein Anti-Chavist gewesen: “Wenn irgendwer von der Liste der Inspiratoren des Projektes von Chávez auszuschließen ist, dann ist es Marx…”[ii]
In der Tat hatte Marx für den Befreier nichts übrig. In einem Brief an Engels nannte er Bolívar sogar “den feigsten, gemeinsten, elendesten Lump”[iii]. Auslöser für diesen Brief waren Einwände, die Marx’ US-amerikanischer Verleger Dana gegen einen Artikel über “Bolivar y Ponte” für die “New American Cyclopaedia” erhob. Marx räumt ein: “Ich (bin) allerdings etwas aus dem cyclopädischen Ton gefallen.”[iv]
In besagtem Artikel stellt Marx Bolívar als einen unfähigen, feigen und verräterischen Versager dar. So heißt es über die Zeit nach dem triumphalen Einzug Bolívars in das befreite Caracas: “Er ernannte sich selbst zum ‘Diktator und Befreier der westlichen Provinzen Venezuelas’, (…) schuf den ‘Orden des Befreiers’, bildete ein auserlesenes Truppenkorps, nannte es seine Leibgarde und umgab sich mit dem Glanz eines Hofes. Aber wie die meisten seiner Landsleute war er jeder länger währenden Anstrengung abgeneigt, und seine Diktatur artete bald in eine Militäranarchie aus…”[v] Und über das Ziel Bolívars, ein geeintes Südamerika zu schaffen, sagt Marx geringschätzig: “Was Bolivar wirklich beabsichtigte, war die Vereinigung ganz Südamerikas zu einer föderativen Republik, deren Diktator er selbst sein wollte. Während er so seinen Träumen, eine halbe Welt an seinen Namen zu heften, vollen Spielraum gab, entglitt die reale Macht rasch seinen Händen.”[vi]
Die geschichtlichen Ereignisse nach dem Tode Bolívars und dem Zerfall Groß-Kolumbiens 1830 schienen Marx zu bestätigen. Es waren in erster Linie reaktionäre, rechts-autoritäre Regime und Diktatoren, die das Erbe Bolívars für sich reklamierten. Der erste Präsident Venezuelas, der unter Hinweis auf die – durch die Situation des Unabhängigkeitskrieges bedingte – Diktatur Bolívars seine eigene autoritäre Herrschaft begründete, war der General Antonio Guzmán Blanco. In seine zweite Amtszeit (1879-1884) fiel der 100. Geburtstag Bolívars, der als Anlaß für großangelegte Feierlichkeiten diente und in deren Rahmen in großem Stil ein Bezug zwischen Guzmán Blanco und Bolívar hergestellt wurde. Einige Jahrzehnte später war es der General Juan Vicente Gómez, der von 1908 bis zu seinem Tod 1935 Venezuela diktatorisch regierte und dies als “endgültige Wiedergeburt des Vaterlandes” feierte. Sein Regime sei die konsequente Fortsetzung des Werkes von Simón Bolívar. Auch auf theoretischem Gebiet reklamierten zunächst Vertreter der Rechten den Befreier für sich, so Laureano Valenilla Lanz, der ab 1915 die offizielle Zeitung der Diktatur von Gómez, “El Nuevo Diario” leitete und darin sowie in eigenen Werken die Thesen vom “Demokratischen Cäsarentum” und dem für die Entwicklung des Landes “notwendigen Gendarm” vorstellte. Dabei behauptete er, mit diesen Thesen dem Ideal Bolívars zu folgen.
Trotz solcher Hindernisse entdeckten im 20. Jahrhundert immer mehr Marxisten Bolívar für sich und die revolutionäre Bewegung. Zu den bedeutendsten, die den revolutionären Gehalt von Bolívars Ideen erkannten, gehörten der Gründer der Sozialistischen Partei Perus, José Carlos Mariátegui, sowie der Begründer der kubanischen Kommunistischen Partei, Juan Antonio Mella. [vii]
Mariátegui forderte, “die revolutionäre Aktualität des Genies Bolívar” aufzugreifen. Und auch Mella forderte 1924, “angepaßt an die Gegenwart für die Realisierung des alten Ideals von Bolívar (zu) kämpfen”[viii]. Andere Marxisten verteidigten hingegen dogmatisch die Thesen von Marx, so der argentinische Publizist und Wissenschaftler Aníbal Ponce, der 1936 in der Zeitschrift “Dialéctica” die erste spanischsprachige Biographie von Karl Marx veröffentlicht hatte.[ix]
Wenn wir vor dem Hintergrund dieser geschichtlichen Entwicklung entscheiden wollen, ob für Marxisten der Bolivarianismus ein Bestandteil ihrer Strategie sein kann, ob eine Verbindung von Marxismus und Bolivarianismus möglich ist, so müssen wir zunächst die Frage beantworten, um welchen Bolivarianismus es sich in unserem Falle handelt, d.h. mit welcher Interpretation der Ideen Simón Bolívars wir es bei der venezolanischen “Bolivarianischen Revolution” zu tun haben.
In mehreren Untersuchungen wurde die These aufgestellt, beim Bolivarianismus chavistischer Prägung handele es sich um eine “Indifferenz aus Prinzip”, die “ideologische Indifferenz” sei sogar die “politische Strategie” der von Hugo Chávez geführten Bewegung.[x] Diese Behauptung ist, vor allem für die ersten Jahre der “chavistischen” Bewegung nicht ohne Grundlage. Die illegale, Ende 1982 gegründete, Bolivarianische Revolutionäre Bewegung (MBR-200), führte zwar intern intensive ideologische Diskussionen, entwickelte aber kein abgegrenztes theoretisches Projekt. Ihre Zielbestimmungen und Aktivitäten, darunter in erster Linie die gescheiterte Rebellion vom 4. Februar 1992, leiteten sich in erster Linie aus den aktuellen Mißständen in der Gesellschaft ab. Auch die 1997 gegründete MVR blieb in ihren ideologischen Aussagen unbestimmt, was auf die Heterogenität sowohl ihrer inneren Mitgliederstruktur als auch ihrer Partner im “Patriotischen Pol” zurückzuführen ist. José E. Molina führt diese Indifferenz auf die Präsenz aller politischer Strömungen im frühen Chávez-Lager zurück. Er unterteilt diese in die groben Richtungen “extreme” und “demokratische Linke” sowie “autoritäre” und “demokratische Rechte”. Zur “extremen Linken” zählt er die linken Gruppen, die sich an den bewaffneten Aufständen gegen die “demokratischen Regierungen” beteiligt hatten. Im Lager der “demokratischen Linken” ortet er die Bewegung zum Sozialismus (MAS) und die Strömung um Luis Miquilena. Als Vertreter der “demokratischen Rechten” nennt er den bisherigen Oberbürgermeister von Caracas, Alfredo Peña, und zur “autoritären Rechten” zählt er rechtsgerichtete ehemalige Offiziere, die sich an der Rebellion von 1992 beteiligt hatten.
Es war, so Molina, zu dieser Zeit schwer festzustellen, welches die dominierende Richtung im Lager um den Präsidenten Chávez bildete.[xi]
Den Zeitpunkt des Beginns einer ideologischen Klärung, die endgültig bis heute nicht abgeschlossen ist, können wir m.E. etwa auf die zweite Hälfte des Jahres 2001 datieren, als nach dem weitgehenden Vollzug der politischen Umwandlung Venezuelas die soziale und wirtschaftliche Umgestaltung des Landes in den Vordergrund trat. Markanter Ausdruck dafür war die Verabschiedung der “49 revolutionären Gesetze”, die im Dezember 2001 in Kraft traten und in deren Folge der damalige Innenminister Luis Miquilena von seinem Amt zurücktrat und in das Lager der Chávez-Gegner überwechselte.
Diese ideologische Klärung und soziale Radikalisierung bedeuteten zwar nicht, dass sich der Bolivarianismus von Chávez nun einer “klassischen” ideologischen Strömung, etwa dem Marxismus, eindeutig zuordnen ließ. Er zog aber die Trennlinien schärfer und sorgte somit für eine Abgrenzung gegenüber den gemäßigten und rechten Strömungen. Vor allem der Volksaufstand zur Niederschlagung des Putsches 2002 und mehr noch der Widerstand gegen den Versuch der ökonomischen Strangulierung des bolivarianischen Prozesses im Dezember 2002 und Januar 2003 führten zu einem größeren Druck der – allgemein radikaleren – Basisbewegungen auf das Handeln der Regierung. Gleichzeitig waren die meisten schwankenden bzw. “moderaten” Teile des “chavistischen” Lagers vor oder während dieser Krisensituationen aus der Unterstützung des bolivarianischen Projektes ausgeschert, wie dies bspw. nach langen internen Auseinandersetzungen und Abspaltungen die MAS vollzog.
Durch diese Entwicklungen kristallisieren sich zunehmend die Bestandteile des “Baums mit den drei Wurzeln” heraus, die für das Projekt der Bolivarianischen Revolution prägend sind. Der heutige Bolivarianismus in Venezuela nährt sich nicht unbedingt aus der Gesamtheit der Äußerungen von Bolívar, Rodríguez und Zamora, sondern vor allem aus einigen Kernbestandteilen, die auf die heutige Situation angewandt und interpretiert werden. Hierin unterscheidet sich die Theorie des Bolivarianismus nicht wesentlich von anderen Ansätzen. Auch der Marxismus selbst basiert hauptsächlich auf den wichtigsten Werken von Marx und Engels, während andere Aussagen und Schriften nur Spezialisten bekannt oder für das Profil der marxistischen Theorie nicht relevant sind (wie dies bspw. bei den dichterischen Versuchen Marx’ der Fall ist). Mit Blick auf den Bolivarianismus können wir außerdem feststellen, dass sich die Ausprägung der Theorie, die Interpretation der Aussagen Bolívars und Rodríguez’, in Venezuela und anderen Ländern des Kontinents in den vergangenen Jahren durchaus radikalisiert hat, so dass zunehmend Berührungspunkte mit marxistischen Ansätzen erkennbar sind.
Dabei ist der Grad der Radikalität unter den verschiedenen bolivarianischen Kräften des Kontinents durchaus verschiedenm. Beispielsweise definieren sich die kolumbianischen FARC-EP, die älteste und größte Guerrilla Lateinamerikas, zugleich als marxistisch-leninistisch und bolivarianisch: “Wir sind Marxisten, weil wir für den Sozialismus kämpfen, wir wollen eine neue, eine gerechte Gesellschaft aufbauen, in der das Kollektiveigentum den Vorrang vor dem Privateigentum hat. Wir sind Leninisten, weil in unserer Organisation die leninistischen Prinzipien wie der demokratische Zentralismus, Kritik und Selbstkritik und andere befolgt werden. (…) Und wir folgen den bolivarianischen Ideen, wir tragen Bolívar in unserer Seele und unserem Herzen. Wir sind wie Bolívar, jeder einzelne von uns Guerrilleros repräsentiert Bolívar, weil wir für die Gleichheit, die Brüderlichkeit kämpfen, weil wir Antiimperialisten sind. In der Praxis wollen wir die bolivarianische Haltung fortsetzen, wir wollen das zu Ende bringen, was Bolívar nicht beendete.”[xii]
In ihrer Deutlichkeit und in ihrem ausdrücklichen Bezug auf Marx und Lenin ist die Position der FARC-EP natürlich radikaler als die von Chávez vertretene Ideologie, wie wir sie aus seinen Äußerungen und den am meisten verbreiteten Positionen in der ihn tragenden Bewegung herauskristallisieren können. Trotzdem sind Gemeinsamkeiten in der Interpretation der Ideen Bolívars unverkennbar.
So ist der (in erster Linie gegen die USA gerichtete) Antiimperialismus einer der zentralen Punkte des heutigen Bolivarianismus. 1829 schrieb Simón Bolívar in einem Brief an Patricio Campbell seine heute meistzitierte Einschätzung der USA nieder: “Die USA scheinen von der Vorsehung dazu bestimmt zu sein, Amerika im Namen der Freiheit mit Elend zu überziehen”[xiii]. Bereits drei Jahre zuvor mußte Bolívar Bestrebungen aufgeben, Cuba von der spanischen Kolonialherrschaft zu befreien, nachdem die USA ihn über den kolumbianischen Außenminister Revenga vor einem solchen Schritt warnten. Den Vereinigten Staaten waren ihre Handelsinteressen, die zu einem großen Teil über Cuba abgewickelt wurden, zu wichtig, um die Insel an eine andere europäische Macht oder eine der neu entstandenen lateinamerikanischen Republiken zu verlieren. Und tatsächlich bemächtigten sich die USA wenige Jahrzehnte später selbst der Insel, als sie Cuba nach der Vertreibung der Spanier in einen halbkolonialen Status zwangen. Auch für die übrigen Staaten des Subkontinents sah Bolívar die Gefahr einer erneuten Versklavung voraus, weshalb er immer wieder die Forderung nach einer Vereinigung der lateinamerikanischen Republiken erhob.[xiv] So schlug er sogar eine Militärallianz zwischen Kolumbien, Guatemala und Mexiko vor, “den einzigen Staaten, die Angriffe durch den Norden fürchten”[xv]
Die Hegemonie der USA über die amerikanische Hemisphäre ist bis heute ungebrochen. Allerdings setzt sich die Erkenntnis des imperialistischen Charakters dieser Hegemonie wieder mehr in Lateinamerika durch, nachdem es Anfang der 90er Jahre so schien, als sei der Begriff des Imperialismus aus den politischen Diskussionen des Kontinents verschwunden und durch den Neoliberalismus ersetzt worden. Lediglich Cubas Präsident Fidel Castro wies standhaft darauf hin: “Der Neoliberalismus ist die Ideologie des Imperialismus in der Phase seiner weltweiten Hegemonie.”[xvi] Heute kritisiert Hugo Chávez die Illusionen, die sich im vorherrschenden politischen Diskurs der 90er Jahre ausdrückten: “Es ist unverzichtbar, dass wir Venezolaner uns mit dem Thema des Imperialismus beschäftigen, denn dieses Wort wurde aus den Reden und Diskussionen gestrichen, es verschwand aus dem Lexikon, aus den nationalen und internationalen politischen Analysen. (…) Dieser alte und übelriechende Imperialismus, den es bereits über 500 Jahre auf dieser Erde gibt, hatte sich maskiert, hatte sich geschminkt und zeigte sich lächelnd. Man sah nicht seine Zähne, man sah nicht seine Krallen, man sah nicht seinen langen Schatten. Als dieser alte Imperialismus erkennen musste, dass sein Versuch, der Welt das neoliberale Modell aufzuzwingen, endgültig gescheitert ist, (…) demaskierte er sich und zeigte uns wieder seine blutigen Zähne und Klauen.”[xvii] Deshalb sei die Bolivarianische Revolution nun in ihre “antiimperialistische Phase” eingetreten.
Für die venezolanischen Kommunisten ist der bolivarianische Antiimperialismus eng mit dem marxistischen Antikapitalismus verbunden. Bereits 1982 analysierte Pedro Ortega Díaz, bis heute einer der führenden Vertreter der Kommunistischen Partei Venezuelas: “In der heutigen Welt haben die antiimperialistischen Revolutionen einen sozialistischen Gehalt. (…) Diese Revolutionen müssen von breiten Allianzen aller patriotischen Klassen und Gesellschaftsschichten geführt werden, an deren Spitze die Arbeiterklasse stehen muss. Der Übergang zum Sozialismus führt in Lateinamerika und der Karibik über die antiimperialistische Etappe.”[xviii]
Andere wichtige Aspekte der Ideen Bolívars und ihrer heutigen Interpretation – wie der Kampf um soziale Gerechtigkeit, um eine gerechte Verteilung von Grund und Boden und eine eigenständige Entwicklung Lateinamerikas – hier zu analysieren, würde den Rahmen dieses Artikels sprengen und muss einer umfangreicheren und gründlicheren Arbeit vorbehalten bleiben. Dazu gehört auch eine intensivere Behandlung der Ideen von Simón Rodríguez, den wir zu den utopischen Sozialisten zählen können und dessen Ausarbeitungen vor allem zu (volks-)pädagogischen Fragen für seine Zeit sehr weitreichend waren. Doch bereits vor dem Hintergrund des oben dargelegten können wir feststellen, dass Bolivarianismus und Marxismus kein Widerspruch sein müssen, wenn die Ideen Bolívars nicht in einem autoritären, sondern in einem revolutionären Sinne verstanden werden. Denn letztlich war sich auch Simón Bolívar selbst bewusst, dass für eine dauerhafte Verteidigung der nationalen Souveränität eine Überwindung der sozialen Ungleichheit, eine soziale Revolution notwendig ist.[xix]
Handelt es sich nun bei den Vorgängen in Venezuela um einen revolutionären Prozess? Weisen die Entwicklungen über den Kapitalismus hinaus?
Günter Pohl bezweifelt dies in einem interessanten Aufsatz, der am 24. September in der UZ erschien: “Ein Blick auf die bisherigen Maßnahmen (samt und sonders als positiv hervorzuhebende Programme im sozialen, gesundheitlichen und edukativen Bereich) zeigt (…), dass nichts jenseits einer bis vor fünfzehn Jahren z. B. von der europäischen Sozialdemokratie als machbar gepriesenen Politik liegt. Die neue Bolivarianische Verfassung garantiert weltweit fast einzigartige partizipativ-demokratische Rechte, ist aber auch ein Sozialvertrag, der das Privateigentum ausdrücklich schützt. Das (die transnationalen Konzerne begünstigende) Doppelbesteuerungsabkommen mit den Vereinigten Staaten wurde nicht verändert; auch die unter den bürgerlichen Vorgängerregierungen aufgehäufte Auslandsschuld wird zurückgezahlt (das revolutionäre Kuba zahlt nur nach der Revolution erhaltene Kredite zurück).” Pohl folgert daraus, dass sich der derzeit vollziehende Prozess nicht gegen den Kapitalismus, sondern gegen dessen “neue Kleider, den Neoliberalismus” richte: “Aber antineoliberal zu sein ist nicht automatisch gleichbedeutend mit Antikapitalismus. Auch Antiimperialismus ist dies nicht zwingend.”[xx]
Günter Pohl hat recht, wenn er darauf hinweist, dass sich der venezolanische Prozess nach wie vor im Rahmen des kapitalistischen Systems bewegt. Schwierig wird es aber schon dort, wo er den Prozess mehr oder weniger als “sozialdemokratisch” charakterisiert. Denn die Sozialdemokratie der 80er Jahre hatte längst keine über das kapitalistische System hinausweisenden Ansätze mehr, sondern verfocht Sozialstaatsmodelle, die den Klassengegensatz abfedern sollten. Schwer vorstellbar, dass wir von der SPD und ihren europäischen Schwesterparteien etwa solche Aussagen hören könnten, wie sie derzeit von Hugo Chávez kommen: “Der Kapitalismus ist die Wirtschaft des Teufels (…) Der Kapitalismus ist pervers, das kapitalistische Wirtschaftsmodell ist einer der Hauptschuldigen an der Tragödie, die heute Millionen und Abermillionen von Menschen auf unserem Planeten durchleben, und darüber hinaus hat der Kapitalismus den Planeten zerstört. (…) Deshalb ist der Kapitalismus der Weg der Zerstörung der Welt. Die Welt muß aus dem zerstörerischen kapitalistischen Modell entkommen. In Venezuela haben wir damit begonnen…”[xxi]
Bereits im Jahr 2000 bescheinigte Fidel Castro dem venezolanischen Prozess einen revolutionären Charakter: “Mit der Verfassung Kubas in der einen und dem Projekt Venezuelas in der anderen Hand habe ich die grundsätzlichen Unterschiede zwischen der einen und der anderen revolutionären Konzeption herausgearbeitet. Ich sage revolutionär, denn beide sind es: Beide wollen ein neues Leben für ihre Völker, sie haben radikale Veränderungen zum Ziel, beide sehnen sich nach Gerechtigkeit und verfolgen das Ziel der engen Union der Völker Amerikas.”[xxii] Zu diesem Zeitpunkt hatte Chávez noch gar nicht von einer Überwindung des Kapitalismus gesprochen, sondern lediglich dem Neoliberalismus den Kampf angesagt. Es greift aber zu kurz, wenn wir die ideologische und strategische Weiterentwicklung der chavistischen bolivarianischen Konzeption nicht anerkennen.
In der Tat haben wir es in Venezuela derzeit noch nicht mit einer (abgeschlossenen) Revolution im marxistischen und leninistischen Sinne zu tun. Es entwickelt sich aber ein Prozess, der nicht nur von seinen Trägern als revolutionär definiert wird, sondern der tatsächlich in seiner strategischen Ausprägung, in seinem ideologischen Gehalt und in seinem Klassencharakter über die Grenzen des kapitalistischen Systems zumindest längerfristig hinausweist. Ob dieser revolutionäre Prozess darin erfolgreich sein wird, steht noch nicht fest, so wie dies bei keiner laufenden Revolution schon im Voraus feststeht. Fest steht aber bereits jetzt, dass sich der Prozess in Venezuela als eine originelle, weitgehend beispiellose Entwicklung vollzieht, die weniger von ausformulierten strategisch-taktischen Konzeptionen, als vielmehr von den aktuellen Herausforderungen und Bedingungen unserer Zeit und der lateinamerikanischen Region bestimmt wird. Und für diesen lateinamerikanischen Prozess braucht es eine lateinamerikanische Ideologie: den Bolivarianismus.