Wilhelm Liebknechts Volksfremdwörterbuch (Berlin 1953) definiert Revisionismus folgendermaßen: „Gegen den Marxismus gerichtete Strömung in der Arbeiterbewegung, versucht den Marxismus durch Entstellung und Ablehnung seiner Leitsätze und durch ihre Ersetzung durch Unrevolutionäre und unwissenschaftliche Theorien zu verflachen, zu entstellen und zu beseitigen; fordert den Verzicht auf den Klassenkampf, auf die sozialistische Revolution, auf die Diktatur des Proletariats, auf den Sozialismus.”

Hauptexponent war der deutsche Sozialdemokrat Bernstein, der schon Ende des 19. Jahrhunderts die schrittweise Transformation der kapitalistischen Gesellschaft in die sozialistische propagierte und vom „Hineinwachsen in den Sozialismus” schwadronierte. Die veränderten gesellschaftlichen Bedingungen, die parlamentarische Stärke der Sozialdemokratie, würden dies ermöglichen. So schuf er die theoretische Rechtfertigung des Reformismus und griff die marxistische Theorie von der Notwendigkeit einer grundsätzlichen revolutionären Veränderung der Gesellschaft an.

Der Klassenkampf wurde von ihm zwar noch auf dem Papier anerkannt, aber praktisch wurde die Unversöhnlichkeit des Gegensatzes zwischen Kapital und Arbeit geleugnet, der Klassenkampf abgeschwächt oder durch die Zusammenarbeit mit der Bourgeoisie ersetzt. So führte die revisionistische Theorie zu opportunistischem Handeln und schließlich zur offenen Kollaboration mit der Bourgeoisie. Folge und Höhepunkt dieser Versöhnung mit dem Imperialismus war die Zustimmung zu den Kriegskrediten 1914 und die Niederschlagung der Rätebewegung durch Ebert und Noske.

Der Zerfall der II. Internationale war die notwendige Konsequenz dieser chauvinistischen Politik. Die sozialdemokratischen Parteien wurden die besten Stützen des kapitalistischen Systems.

Rechts- wie Linksabweichungen sind eine dauerhafte Gefahr in der Arbeiterbewegung. So entwickelte sich der Revisionismus nicht in nur in den sozialdemokratischen, sondern später auch in den kommunistischen Parteien, einschließlich derer an der Macht. Zur Unterscheidung von dem Bernsteinscher Prägung wird er als „moderner Revisionismus” bezeichnet. Die ideologischen Verformungen, wie sie seit den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts in verschiedenen kommunistischen Parteien (der Sowjetunion und anderer Parteien des Ostblocks, aber auch in Westeuropa) auftauchten, entsprechen in vielen Punkten dem alten Revisionismus.

Klassenversöhnung statt Klassenkampf: d.h. Zusammenarbeit und Versöhnung mit dem Imperialismus; friedliche Koexistenz als dauerhaftes freundschaftliches Miteinander von Imperialismus und Sozialismus (Schüren der Illusion, der Imperialismus werde das zulassen) bis Hin zur Sympathiewerbung für den Imperialismus; Anerkennung des Status Quo und keine Orientierung mehr auf den weltweiten Sieg des Sozialismus. Statt den Imperialismus als Kriegstreiber zu brandmarken, wurde er zum vertrauenswürdigen Partner für die Sicherung des Friedens.

Auch die Beziehung zu den anderen sozialistischen Staaten und den jungen antiimperialistischen Staaten, die um ihre Befreiung kämpften, wurden – anders als zu Lenins und Stalins Zeiten – von den Prinzipien friedlicher Koexistenz statt vom proletarischen Internationalismus und der Einheit des sozialistischen Lagers geprägt. Eine enge, auch ideologische Zusammenarbeit wäre aber nötig gewesen, um eine einheitliche Gesamtstrategie gegen den Imperialismus entwickeln zu können. Die Auflösung des Kominformbüros 1956 war die konsequente Folge.

Trotz dieser revisionistischen Entwicklung blieb die Sowjetunion entscheidend für den Weltfrieden und eine gewisse Stabilität der osteuropäischen Staaten. Die Dekolonisierung Afrikas, der Aufbau des kubanischen Sozialismus und der Sieg des vietnamesischen Volkes über den US-Imperialismus wären ohne sie und ihre Unterstützung nicht möglich gewesen.

Für die Arbeiterbewegung in den kapitalistischen Staaten wurde der friedliche Übergang zum Sozialismus propagiert – Reform statt Revolution hieß wiederum die Devise.

Die kommunistische Partei wurde unter Chruschtschow als „Partei des ganzen Volkes”, nicht mehr als Partei der Arbeiterklasse definiert. Das hatte zur Folge, dass die Partei sich nicht mehr bemühte, ideologisch und politisch die Vorhut zu erringen und den ideologischen Klassenkampf zu führen, die Theorie weiter zu entwickeln und wachsam gegenüber bourgeoisen und kleinbürgerlichen Tendenzen zu bleiben. Stattdessen wurden Theorie und Ideologie immer mehr vom Dogmatismus geprägt. Der Marxismus-Leninismus galt als veraltet, sei zur Weiterentwicklung der Gesellschaft nicht mehr brauchbar.

Konsequenterweise schien auch die Diktatur des Proletariats überflüssig; entsprechend der „Partei des ganzen Volkes” galt der Staat als „Staat des ganzen Volkes”. Der Aufbau des Sozialismus wurde nicht mehr offensiv propagiert, die kommunistische Identität langsam aber sicher zerstört.

Natürlich war die Tätigkeit der Revisionisten nicht auf die Theorie und die Außenpolitik beschränkt. Für die Lebensverhältnisse am folgenreichsten war ihr Wirken in der Wirtschaftspolitik. Während Chruschtschow behauptete, die Sowjetunion werde die USA in einem Jahrzehnt überholen, setzte er Maßnahmen in Gang, mit denen das Land langfristig ruiniert wurde. Und statt die Errungenschaften des Sozialismus in der Bildung, dem Gesundheitswesen, dem öffentlichen Verkehr usw. weiter voranzutreiben, orientierte er auf den individuellen Konsum als Vergleichsmaßstab mit dem Kapitalismus.

Um die versprochene Erhöhung des Lebensstandards zu bewerkstelligen, wurde der Entwicklung der Konsumgüterindustrie vor der Produktionsgüterindustrie der Vorzug gegeben. Das war natürlich populär, musste aber langfristig zu wirtschaftlichen Rückschritten und Abhängigkeit vom internationalen Finanzkapital führen, sehr schnell auch zu Versorgungsengpässen. Während bei der Rüstungsindustrie technische Höchstleistungen erreicht wurden, wurde dies auf die zivile Produktion nicht übertragen. Eine wissenschaftlich fundierte Wirtschaftsplanung fand nicht mehr statt.

In der Landwirtschaft wurden die Genossenschaften nicht mehr fortentwickelt. Die Auflösung der Maschinen-Traktoren-Stationen war von den ärmeren Kolchosen nicht zu verkraften. Die Neuland-Aktion entwickelt sich zum kostspieligen Fiasko.

Um dem Imperialismus standhalten zu können, hätte es der engen Kooperation der einzelnen nationalen Planwirtschaften über den RGW (Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe) bedurft. Aber ganz im Gegenteil verschärften sich Abschottung und Konkurrenz im Lauf der Jahre, und die Arbeitsteilung nahm unter dem Motto des „Nationalkommunismus” ab.

Man darf sich nun nicht vorstellen, dass dies von einem Tag auf den ändern passierte. Die Revisionisten übernahmen die kommunistischen Parteien nicht kampflos. Sowohl in der KPdSU wie in und mit den ändern kommunistischen Parteien gab es heftige Auseinandersetzungen, die die Revisionisten immer wieder zu Zugeständnissen und zum Rückzug zwangen. Insbesondere die KP Chinas entlarvte die revisionistische Ideologie und Politik detailliert, isolierte sich aber durch ihre falsche Sozialimperialismus-Theorie (Charakterisierung der Sowjetunion als Sozialismus in Worten, Imperialismus in der Tat). Die Spaltung der kommunistischen Weltbewegung arbeitete den Imperialisten mit ihrer Strategie „Wandel durch Annäherung” voll in die Hände. Es dauerte immerhin 37 Jahre, bis unter dem Druck der äußeren Konterrevolution die innere Konterrevolution siegen und die Sowjetunion zerstört werden konnte. Und bis zur Liquidierung des Sozialismus gab es das Recht auf Arbeit und das Recht auf Wohnen, der Boden war keine Ware, und die Lenkung der Produktion erfolgte nicht im nachhinein über den Markt, sondern durch einen gesamtstaatlichen Plan.

Angesichts der Niederlage des Sozialismus und einer anhaltenden Schwäche der Arbeiterbewegung ist es nicht verwunderlich, dass auch heute weltweit wieder um die gleichen Entscheidungen gekämpft wird. Die Entwicklung der PDS ist ein trauriges Beispiel dafür. Es geht erneut um die Fragen Klassenzusammenarbeit, Reform oder Revolution, Diktatur des Proletariats, Anerkennung der bürgerlichen Legalität, Misstrauen gegenüber dem Proletariat und Vertrauen auf die Bourgeoisie.

Ausführlich dazu: Kurt Gossweiler, Thesen zur Rolle des modernen Revisionismus bei der Niederlage des Sozialismus, in: Wider den Revisionismus, München 1997.

Aus Theorie & Praxis Ausgabe 8, März 2007

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