Nach Verlauf von einigen Jahren der Prosperität und des guten Geschäftsgangs beginnt erst hie und da in der Presse ein unklares Gemunkel, auf der Börse werden einzelne beunruhigende Nachrichten über Bankrotte gemeldet, dann werden die Winke in der Presse deutlicher, die Börse wird immer unruhiger, die Staatsbank erhöht den Diskont, das heißt erschwert und beschränkt den gewährten Kredit, bis die Nachrichten über Bankrotte, Stockungen wie ein Platzregen kommen. (…)

Schon die Sprache, in der die Handelszeitungen über eine Krise zu berichten pflegen, bewegt sich mit Vorliebe in solchen Wendungen wie: »der bisher heitere Himmel der Geschäftswelt fängt an, sich mit düsteren Wolken zu überziehen«, oder wenn eine schroffe Erhöhung des Bankdiskonts zu melden ist, so wird sie unter dem unvermeidlichen Titel »Sturmzeichen« serviert, ebenso wie wir nachher vom vorüberziehenden Gewitter und heiteren Horizont lesen. Diese Ausdrucksweise bringt etwas mehr als die Geschmacklosigkeit der Tintenkulis der Geschäftswelt zum Ausdruck, sie ist gerazu typisch für die seltsame, sozusagen naturgesetzliche Wirkung der Krise. Die moderne Gesellschaft merkt ihr Nahen mit Schrecken, sie beugt zitternd den Nacken unter den hageldichten Schlägen, sie wartet das Ende der Prüfung ab und erhebt dann wieder das Haupt, erst zagend und ungläubig, endlich beruhigt. Es wird dies genau die Art sein, wie im Mittelalter das Volk den Ausbruch einer großen Hungersnot oder der Pest gewärtigte, wie heute der Landmann ein schweres Gewitter erduldet: dieselbe Ratlosigkeit und Machtlosigkeit gegenüber der schweren Prüfung. Allein die Hungersnot wie die Pest sind, wenn auch in letzter Linie soziale Erscheinungen, zunächst und unmittelbar Ergebnisse von Naturerscheinungen: einer Mißernte, einer Verbreitung krankheitserregender Keime und dergleichen. (…)

Was aber ist die moderne Krise? Sie besteht, wie wir wissen, darin, daß zuviel Waren produziert worden sind, die keinen Absatz finden, daß infolgedessen der Handel und mit ihm die Industrie stocken. Die Herstellung von Waren, ihr Verkauf, der Handel, die Industrie – das sind aber rein menschliche Beziehungen. Es sind die Menschen selbst, die Waren produzieren, und die Menschen selbst, die sie kaufen, der Handel wird von Mensch zu Mensch geführt, wir finden in den Umständen, welche die moderne Krise ausmachen, nicht ein einziges Element, das außerhalb des menschlichen Tuns liegen würde. Es ist also niemand anders als die menschliche Gesellschaft selbst, die die Krise periodisch hervorbringt. Und doch wissen wir gleichzeitig, daß die Krise eine wahre Geißel für die moderne Gesellschaft ist, daß sie mit Schrecken erwartet und mit Verzweiflung ertragen wird, daß sie von niemand gewollt, herbeigewünscht wird. Denn abgesehen von einzelnen Börsenwölfen, die sich bei einer Krise auf anderer Kosten rasch zu bereichern trachten, dabei aber häufig selbst hereinfallen, ist die Krise für alle zum mindesten eine Gefahr oder eine Störung. Niemand will die Krise, und doch kommt sie. Die Menschen schaffen sie mit eigenen Händen, und doch wollen sie sie um nichts in der Welt haben. Hier haben wir in der Tat ein Rätsel des Wirtschaftslebens vor uns, das uns keiner von den Beteiligten zu erklären weiß.

Der mittelalterliche Bauer auf seiner kleinen Parzelle produzierte zu einem Teil, was sein Grundherr, zum andern Teil, was er selbst wollte und brauchte: Korn und Vieh, Lebensmittel für sich und seine Familie. Der große Grundherr im Mittelalter ließ für sich produzieren, was er wollte und brauchte: Korn und Vieh, gute Weine und feine Kleider, Lebensmittel und Luxusgegenstände für sich und seinen Hofhalt. Die heutige Gesellschaft produziert aber, was sie weder will noch brauchen kann: Krisen; sie produziert von Zeit zu Zeit Lebensmittel, die sie nicht verwenden kann; sie leidet periodisch Hungersnot bei ungeheuren Speichern unverkäuflicher Produkte. Das Bedürfnis und die Befriedigung, die Aufgabe und das Resultat der Arbeit decken sich nicht mehr, zwischen ihnen steckt etwas Unklares, Rätselhaftes.

Auszug aus: Rosa Luxemburg, Einführung in die Nationalökonomie. In: Rosa Luxemburg: Gesammelte Werke, Band 5, Ökonomische Schriften. Dietz Verlag, Berlin 1975, Seiten 571–573

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert